Wir sind nicht Krank!

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22.10.2017 16:23
#11
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Moderator

ich bin nach wie vor der Meinung, dass wir krank sind. Wie Bauchschmerzen ein Symptom für z. B. Reizdarm oder Krebs sein kann, ist das Messie-Syndrom ein Zeichen, dass was nicht in Ordnung ist, im wahrsten Sinn des Wortes. Es ist Ausdruck einer Krankheit. Bauchschmerzen sind auch Ausdruck einer Krankheit. Die Krankheit selbst ist nicht das Messie-Sein, das ist nur das letzte Glied einer langen
Kette, wie Sauerstoffmangel bei Lungenkrebs beispielsweise.

Da kann man aber auch sagen: Sauerstoffmangel ist Bestandteil des Lungenkrebses, Messiesyndrom ist Bestandteil einer psychischen Krankheit wie beispielsweise Traumata. Es ist quasi ein Symptom. Wenn wir nun wissen, Messie ist ein Symptom, wissen wir auch, wir haben eine Krankheit. Dann kann man auch nicht schreiben "wir sind nicht krank", damit machen wir uns was vor. Wir sind krank, das lässt sich nicht beiseite schieben. Wo es raucht, da ist auch Feuer.

Viele Grüsse
Draculara

http://www.draculara.de

http://messie.bplaced.net/messie

Eine Lösung setzt ein Problem voraus. Ich kenne meine Fehler, das hält mich aber nicht davon ab, sie zu machen

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25.10.2017 16:39 (zuletzt bearbeitet: 25.10.2017 16:44)
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#12
So

@Draculara:
Was ist Krankheit? Spontan würde ich sagen: Wenn irgendwas an meinem Körper/Gehirn nicht so funktioniert wie es "normalerweise" funktionieren sollte, UND wenn ich an diesem Zustand leide.
Eigentlich ist es ein gesellschaftliches Konstrukt, welcher körperliche oder seelische Zustand als Krankheit bezeichnet wird, und welches körperliche oder seelische Merkmal ein "Symptom" ist. Und es ist von den gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängig, welche Zustände ein Körper oder Geist überhaupt haben kann.
Natürlicherweise gibt es körperliche oder seelische Zustände, die direkt lebensbedrohlich sind oder sein können: Wunden, Infektionen, Schwindelattacken am Abgrund... Eine Grippe würde ich als Krankheit bezeichnen, aber in einer anderen Kultur ist es vielleicht Gottes Wille, oder ein Ungleichgewicht der Weltenkräfte.
Gerade bei seelischen "Symptomen" ist viel gesellschaftliche Definition dabei. Jemand, der Stimmen hört, ist in unserem Kulturkreis krank. In anderen Kulturen ist er von den Göttern erleuchtet, oder von Dämonen besessen, ein "Seher", oder einfach "schrullig".

Ich frage mich, ob es in anderen Kulturen Messies gab oder gibt? Nehmen wir das Römische Imperium. Ein armer Mensch hatte nicht soviel Besitz, dass der zu einem Problem hätte werden können. Es gab kaum Müll. Was anfiel, wurde in irgendeiner Form genutzt, und wenn es als Brennmaterial war. Ein reicher Mensch hatte auch nicht soviel Zeug wie wir heute, und selbst wenn, hatte er Sklaven, die Ordnung hielten. (Wünsche ich mir manchmal auch.) Oder im alten Japan: Der arme Bauer packte seinen Hanfkittel in einen Strohkorb und aß aus einer Holzschüssel. Der reiche Samurai packte seinen goldbestickten Seidenkimono in eine lackierte und geschnitzte Truhe und trank aus feinsten Porzellan. Viel im Sinne von Masse hatten beide nicht.

Sicher gab es früher auch verwahrloste Menschen: körperlich oder geistig beeinträchtigte Personen, die nicht mehr flicken oder putzen konnten, und in Dreck versumpften. Viel Unterschied zu Normalos war da aber vermutlich nicht zu erkennen, allein schon aus Mangel an verdreckbaren Objekten. Und Verwahrlosung ist nicht deckungsgleich mit Messietum.
Oder den "Spinner", der irgendwelche Objekte sammelte. Sofern er die Möglichkeit hatte, diese zu bekommen.
Wenn ein Gegenstand, z.B. ein Kleidungsstück oder Geschirrstück, von einem Handwerker angefertigt werden musste, war es normal, dass man ihn ewig aufbewahrte, und man schaffte sich schon aus Kostengründen nicht 20 oder 30 davon an.

Ich glaube, dass erst unsere industrielle Billig-Konsumgesellschaft das Phänomen Messietum erzeugt hat.
Es werden Objekte massenhaft hergestellt, deren einziger Zweck darin besteht, gekauft und weggeworfen zu werden. Banaler Tinnef, wie Dekoartikel, Kerzenhalter, Vasen, Plastikkram usw. oder Wegwerf-Informationen wie TV-Zeitschriften und Ähnliches.
Alles was man anfasst, hat eine Verpackung, die oft wertvoller ist als der Inhalt.
In der Werbeindustrie arbeiten Leute, die sogar zu diesem Zweck jahrelang studiert haben, daran, wie man in Menschen Bedürfnisse nach Objekten wecken kann, die diese eigentlich gar nicht haben. Es werden mit den Dingen Botschaften verkauft: Kaufe dies, dann bist du eine gute Hausfrau. Kaufe jenes, dann wirst du glücklich und begehrt. Und wenn du das und das nicht kaufst, bist du im Nachteil.
Beispielsweise werden in Katalogen wunderschön arrangierte Wohnungen gezeigt, farblich harmonierend, entweder kühl-elegant oder bunt-gemütlich. Das sieht alles so hübsch aus und weckt eine Sehnsucht nach etwas Ähnlichem. Also kauft man sich den schönen Teppich. Zu Hause sieht es aber nicht so schön durchgestylt wie auf dem Foto aus (wie denn auch - das Foto ist von Leuten komponiert worden, die Ahnung haben von Farbwirkung, Lichteinfall etc) Frustriert stopft man den Teppich in den Keller, weil man ihn ja nicht wegwerfen kann. Hat ja Geld gekostet, und vielleicht... passt die Wohnung doch irgendwann mal dazu. Blödsinn.

Kosmetika sind bei meiner Schwester ein echtes Problem: das ganze Bad ist vollgestopft mit Shampoos und Pflegeprodukten, Makeup und Döschen und Fläschchen. Mal dies probieren, mal jenes. Das alles wird sie in ihrem ganzen noch vor ihr liegenden Leben nicht aufbrauchen können. Und hinzu kommt: das Zeug verdirbt ja auch. Es wird ranzig, oder die Inhaltsstoffe verändern sich. So ein Zeug kann dann sogar krank machen. Als meine Mutter gestorben ist, haben wir ihren Anteil ausgemistet, und dabei wenigstens das Zeug von meiner Schwester mit entsorgt, was älter als drei Jahre war. Man kann aber nur so viel Zeug ansammeln, wenn man auf die Einflüsterungen der Werbung (für gepflegtes schönes Haar, für die sensible Haut, zum Relaxen...) reagiert.
Wenn eine leichte Neigung zum Sammeln da ist, wird sie durch die allgegenwärtige Werbung sozusagen geweckt.

Das Argument "Vielleicht brauche ich das noch." ist in meinen Augen ein Ausdruck von großer Zukunftsangst. Wenn ich 6 Butterdosen habe, weil mir ja eine kaputtgehen könnte, vertraue ich nicht auf die Zukunft. Ich brauche Netz und Gürtel und Hosenträger. Plus Anseilsicherung und Geländer und Brüstung. Ich habe mir irgendwann gesagt: Sollte einmal der Fall eintreten, dass mir 5 Butterdosen gleichzeitig (!) kaputtgehen, und ich die 6. brauche, dann habe ich ein ganz anderes Problem - dann ist vermutlich das ganze Haus abgebrannt. Also habe ich die Butterdosen nach Schönheit/Qualität sortiert, und die vier schäbigsten, kaputtesten und unpraktischsten weggeworfen. Jetzt habe ich zwei: eine in Benutzung, eine kann derweil in der Spülmaschine sein, oder als echte Reserve.

Vorgestern habe ich alte Computerbücher weggeworfen. Ich habe mir auch immer eingeredet, vielleicht brauche ich die mal wieder. Vielleicht will mal jemand etwas daraus wissen.
Wozu? Keine Sau programmiert heute noch in Fortran oder Pascal. Für HTML gibt es gute Tutorials im Internet. Und sollte ich jemals etwas nachschlagen müssen, sind die alten Bücher eh veraltet und passen nicht mehr zu heutigen Programmversionen und Betriebssystemen. Also ab in die Tonne. An dem Platz im Regal stehen jetzt andere Bücher, die vorher auf meinem Schreibtisch rumlagen.

Klar, Messietum kann ein Symptom für eine psychische "Krankheit", oder anders gesagt für einen gesellschaftlich unerwünschten Seelenzustand sein. Aber ich glaube, dass der größte Teil Ausdruck dafür ist, dass nicht alle Menschen problemlos mit der heutigen Massenkonsumgesellschaft klar kommen. Da wir die Gesellschaft nicht so einfach ändern können, müssen wir uns irgendwie durchfuddeln, ohne unterzugehen. Darum geht es.


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28.10.2017 06:38
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#13
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Liebe @Sophie

deine Posts sind immer klar strukturiert, ansprechend formuliert und vor allem voll mit Infos. Ich danke dir dafür!

Es war überraschend für mich, dass du so lange einen Therapieplatz suchst. Unter psychotherapiesuche de habe ich eingegeben, was ich suche und die Leute systematisch angeschrieben/angerufen. Innerhalb von drei Monaten hatte ich einen Platz. Mannheim ist vielleicht kleiner als Frankfurt, aber doch immerhin eine Stadt. Ich drücke dir die Daumen, dass du fündig wirst.
Hast du schon einmal davon gelesen, dass sich auch mit Ernährung und Bewegung an der frischen Luft Depressionen positiv beeinflussen lassen? Wenn ich konsequent dabei bleibe, danan ist die Wirkung beeindruckend!

Sehen wir uns am 10./11.11. in Niedermittlau?
Liebe Grüße,
die Kräuterfrau


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28.10.2017 06:44
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#14
Gast
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Liebe @Draculara

warum willst du krank sein? Ich habe das Gefühl, wenn ich mein Messietum als Krankheit deklariere, gebe ich die Verantwortung dafür ab. Die möchte ich aber behalten.

Deshalb kann ich mir trotzdem Hilfe suchen, um den Schmerz, die unverheilte Wunde zu finden, die ich unter meinem Mess verstecke und nicht anschauen will. Nur, wenn ich mir diesen Teil meiner selbst wirklich anschaue, kann ich auch Heilung finden.

Ein schönes Wochenende wünscht dir die Kräuterfrau


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28.10.2017 09:29
#15
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Moderator

@Kräuterfrau

Ich will nicht krank sein. Auch wenn man krank ist, hat man noch eine gewisse Eigenverantwortung. Sonst könnte ich sagen: "Ich kann nichts dafür, dass ich Herrn XY geschlagen habe, ich bin nämlich bipolar." Oder: "Ist nicht meine Schuld, dass die Rechnungen nicht bezahlt werden. Ich bin Messie und verschlampe alles." So reagiere ich nicht, grundsätzlich gilt, das Schlimmste kann man verhindern, also Post aufmachen, Rechnungen und andere Dokumente in eine Schublade legen, unbezahlte in eine andere, den Platz unterm Rauchmelder frei schaufeln, damit der Fritze dran kommt, dafür sorgen, dass Handwerker durch kommen und ihre Arbeit machen können.

Nur weil ich krank bin, heißt das noch lange nicht, dass die Krankheit als Entschuldigung herhalten soll. Das verstehst du falsch. Wenn man krank ist, kann man Medikamente nehmen oder eine Therapie machen, es ist möglich, gesund zu werden, oder behandelt zu werden, so dass einen die Krankheit nicht unnötig einschränkt. Mit dem Messiesein ist es nicht so einfach, man kann nicht einfach irgendeine Pille schlucken oder ein paar Mal zum Psychotherapeuten gehen und dann die Wohnung aufräumen. Wie Bipolarität oder Schizophrenie ist es auch nicht, dann könnte man unter bestimmten Medikamenten und einer Verhaltenstherapie die Krankheit in den Griff kriegen. Es ist leider unheilbar, auch wenn @Messie das anders sieht. Bei ihm war es heilbar, aber ich sehe hauptsächlich in seiner Frau die Therapie. Weil sie kein Messie ist und aufpasst, dass nicht unnötig Dinge gesammelt werden. Wäre mein Mann kein Messie, müsste ich auch regelmäßig im Haushalt was tun und Klamotten ausmisten. Dann wäre ich auch kein Messie. Es hat erst in dieser neuen Wohnung angefangen, auszuarten. In der 2-Zimmer-Wohnung haben wir öfter eine "Aktion gestartet" wenn sich Besuch ankündigte. Hier haben wir einfach 3 Zimmer abgeschlossen und "nur" im Wohnzimmer, der Küche und dem WC geputzt und aufgeräumt.

Es ist nicht mein Wunsch, krank zu sein, aber wenn man z. B. gegen seine Wünsche handelt, will dass es gut aussieht und sauber ist, aber das Gegenteil ist der Fall, ist man krank. Auch weil das Messie-Syndrom ein Anzeichen dafür ist, dass man krank ist, z. B. bipolar, oder traumatisiert, ist es Bestandteil einer psychischen Krankheit. Das habe ich mir nicht ausgesucht, darauf bin ich gekommen, als ich mehrere solcher Artikel gelesen habe, wie es Emin hier gepostet hat.

Viele Grüsse
Draculara

http://www.draculara.de

http://messie.bplaced.net/messie

Eine Lösung setzt ein Problem voraus. Ich kenne meine Fehler, das hält mich aber nicht davon ab, sie zu machen

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