MM - Minimalismus und Mobilität

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22.11.2017 15:36
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#6
So

@Kräuterfrau: Dieses sparsame japanische Zimmer ist übrigens eine westliche Idealvorstellung, gespeist aus Bildern und Filmen, die in historischen Zeiten spielen, vergleichbar mit den kargen Ritterburgen Europas. Sogar Barockschlösser sind zwar bunt bemalt, aber im Grunde im Vergleich zu heutigen Normalwohnungen kaum möbliert.
Im wirklichen modernen Japan sind die "normalen" Wohnungen im Vergleich zu westlichen Wohnungen extrem klein und extrem vollgestopft. Da würde sogar ein Messie Klaustrophobie kriegen. Der "normale" Japaner geht allerdings nur zum Schlafen nach Hause, ansonsten lebt er in der Firma. Sehr wohlhabende Leute haben ein Repräsentationszimmer, das nach diesem historischen Stil eingerichtet ist, und so gut wie nie benutzt wird. Sehr arme Leute haben ein Miet-Bett im Wandschließfach. Auf dem Land gibt es noch alte Bauernhäuser mit einem Raum, in dem gekocht, gelebt und geschlafen wird. Abends wird der Krempel in eine Ecke geschoben und die Schlafmatten ausgerolt. Ich war völlig baff, die Realität im Vergleich zu den gängigen Vorstellungen zu sehen.


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22.11.2017 16:51
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#7
Gast
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Liebe @Sophie

warst du mal in Japan? Deine Erfahrungen würden mich sehr interessieren.

Bisher dachte ich, dass es Wanderarbeiter und Mietbetten nur in China gäbe.
Mir ist klar, dass moderne Wohnungen in Japan nicht so weit von unseren entfernt sind. In einem Ryokan (sehr japanisches Hotel) findet sich eher die traditionelle Atmosphäre. Auch in einem Onsen (öffentliches Bad) geht es eher altmodisch zu. Papiermacherwerkstätten sehen auch noch aus wie eh und je - sofern es sich um handgeschöpfte Papiere handelt.

Übrigens gibt es auch in Japan Messies - sonst gäbe es nicht das Buch von Marie Kondo.

Liebe Grüße
die Kräuterfrau


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22.11.2017 17:50
avatar  Sophie
#8
So

Ich war vor einigen Jahren mal für ein paar Tage auf Dienstreise in Nagoya bei Toyota. Da ging es hauptsächlich um industrielle Themen, aber ich bin sehr neugierig (und vermutlich aus Sicht der Japaner sehr unhöflich), und hab jedem Löcher in den Bauch gefragt, der Englisch konnte. Mein Einblick ist also auch nur sehr oberflächlich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Japan sehr verwestlicht, obwohl die Mentalität immer noch ganz anders ist. Zum Teil ultramodern mit beleuchteter WC-Dusche mit Föhn, zum Teil erzkonservativ wie bei uns in den 1950ern. Und was da an Plastikkram gekauft wird! Ich hatte den Eindruck, Funktion ist egal, Hauptsache bunt und blinkend. Verpackungen sind noch aufwendiger als bei uns, vor allem für Mitbringsel, regelrechte Kunstwerke. Und ständig muss man Mitbringsel annehmen oder mitbringen. Da kriegt man ein Riesenpaket mit Schleifen und Gedöns, und drin liegt ein Apfel....
Trotzdem komme ich mit japanischen Technikern besser klar als mit Amerikanern. Die Japaner sind in der Regel sehr zuverlässig und sorgfältig, achten sehr auf das gesellschaftliche Ansehen, machen aber keine Prunk-Show daraus. Wanderarbeiter wie in China gibt es nicht, höchstens Saisonarbeiter wie bei uns, aber in Großstädten sind die Mieten so extrem hoch, dass manche sich keine Wohnung leisten können oder wollen. Oder der Arbeitsweg ist dermaßen lang, dass sie unter der Woche außer Haus sind. Die buchen halt ein billiges Schlafschließfach. Kann man auch als Tourist machen, aber wenn mir der Arbeitgeber ein Hotelzimmer zahlt, mach ich das nicht.

Stimmt, die traditionellen Handwerker, die Bäder, das ist bewusst im alten Stil gehalten. Es gibt eine tiefe Verehrung für das Überlieferte, das wird sehr gepflegt. Und was das Handwerk angeht, sind die Methoden schon sehr ausoptimiert, besser kann man es kaum machen. Im Volksmärchen gibt es die Vorstellung, das Alltagsgegenstände wie Teekannen oder Schirme lebendig werden, wenn sie sehr alt sind. Da habe ich bei mir eine starke Resonanz empfunden. Ich bin ja auch so, dass Pflanzen oder Dinge für mich beseelt sind, und je älter, desto stärker, als ob die Seelenenergie der Benutzer darauf abfärben würde. Aber mit dabei ist eine knallharte Selbstdisziplin. Da wird nicht das Werkzeug in die Ecke gepfeffert, sondern gesäubert und sorgfältig an seinen Platz geräumt, beinahe rituell. Solche Handwerksmeister werden auch von "Normaljapanern" verehrt, weil das auch dort nicht angeboren ist, sondern harte Arbeit bedeutet.

Inspiriert von der Vorführung zweier Toyota-Ingenieure habe ich mich auch mal an Kendo gewagt, und vieles an der Philosophie kann ich auch im Alltagsleben gut anwenden. Das hört sich vielleicht blöd an, aber wenn ich für eine Arbeit - beispielsweise das Bad putzen - ganz bestimmte Kleidung (= die Rüstung) anlege, und mit immer dem gleichen Ritual die Arbeit beginne und beende, und dann die Kleidung wieder wechsele und sorgfältig zusammenlege, und ganz wichtig: die Utensilien als wertvolle Werkzeuge ansehe, wird die Arbeit dadurch aufgewertet. Dann mache ich es auch wirklich und versuche mich nicht zu drücken.

Wir sind in unserer Konsumgesellschaft so geil auf Besitz, und Geiz ist so geil, deshalb häufen wir Ramsch an, den wir unbewusst verachten, und verächtlich behandeln (indem wir ihn auf einen Haufen schmeißen und darauf herumtrampeln), und wir verachten uns dafür selbst, und deshalb wollen wir uns mit noch mehr Ramsch trösten. Was für ein Geist würde wohl aus diesem lieblos behandelten Ramsch werden?


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22.11.2017 19:26
avatar  Nemo
#9
Ne

Wirklich interessant, was ihr von Japan erzählt. Ich hab auch schon von einem Juristen einiges erzählt bekommen, er ist mit einer Japanerin verheiratet und war lange in Japan. Dann kenne ich noch einen französischen Biologen (spezialisiert auf Myrmekologie), der mit seiner japanischen Frau in Japan lebt. Für Ausländer scheint es dort recht angenehm zu sein, doch was ich sonst so sah in Dokus, lässt mich eher erschauern, gerade in Hinblick auf den Leistungsdruck, der dort auf den Kindern liegt.

Was ist ein Schlafschließfach?


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22.11.2017 20:41 (zuletzt bearbeitet: 22.11.2017 20:44)
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#10
Gast
( gelöscht )

@Sophie

Liebe Sophie,

entsprechend erfahrene Kunsthandwerker können in Japan zum 'lebenden Monument' ernannt werden, vor allem bei Gewerken, die jahrhundertelange Traditionen haben, wie das Papierschöpfen, oder Suminagashi (eine Buntpapiertechnik, unbedingt mal googeln, ist voll schön). So sollen alte Techniken vor dem Aussterben bewahrt werden.

Die Sache mit den aufwändig verpackten Geschenken ist lustig. Am besten hat die Verpackung das Label einer angesagten Firma. Oft wird es gleich weiterverschenkt als Prestigeobjekt. Visitenkarten sind dabei auch sehr wichtig. Unbedingt mit beiden Händen überreichen und die des anderen mit Respekt genau anschauen, nicht einfach wegstecken.

Die Seelenenergie in alten Gebäuden und Gegenständen ist oft sehr deutlich zu spüren. In unserem neuen Zuhause haben wir erst mal geräuchert. Danach war es zu ertragen.
Altes und/oder gutes Werkzeug mag gute Pflege. Schließlich bringt man sein Auto doch auch zur Inspektion. Ein geschärftes Messer ist einfach ein Genuss in der Benutzung!

Die Idee mit der passenden Kleidung habe ich schon von jemandem gehört, die Homeoffice macht. Sie zieht sich tatsächlich Bürokleidung an, wenn sie loslegt. So kommt sie gar nicht erst auf die Idee zwischendurch eben mal so die Wäsche zu erledigen. So ist sie mit Sicherheit viel effizienter.

Rituale nutzen wir viel zu wenig. Ich denke, die könnten uns sehr hilfreich sein, selbst bei der Hausarbeit. Darüber muss ich noch nachdenken.
Gute Nacht,
die Kräuterfrau


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