Zwischen Scham und Liebe...

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02.07.2014 16:08
#1
Nu

Hallo!

Lange habe ich gezögert, über meine Mutter zu sprechen. Auch in dieses Forum zu schreiben fällt mir nicht leicht, weil ich irgendwo das Gefühl habe, sie zu verraten. Aber ich bin an einem Punkt, an dem ich über das wenigstens schreiben muss, weil ich wirklich niemanden kenne, dem ich das anvertrauen könnte.

Es geht um meine Mama, die ich einerseits sehr liebe, der ich viel zu verdanken habe und die mir trotz aller Differenzen letztlich immer geholfen hat. Andererseits schäme ich mich für sie und habe immer die Angst, dass jemand aufdeckt oder öffentlich macht, wer sie ist. Meine Mama ist im Grunde eine gebrochene Frau. Sie hat früher von einer glücklichen eigenen Familie geträumt aber beide Ehen sind gescheitert, sie wurde depressiv und hat die Kontrolle über ihr Leben verloren. Als ich noch bei ihr in der gleichen Wohnung gelebt habe (ich bin Student), fing es bereits im Kleinen an, dass sich ihre innere Unordnung auch nach außen Ausdruck verliehen hat. Sauberkeit war noch nicht das größte Problem, Sachen wie Abwasch oder Boden wischen haben wir zusammen einigermaßen hinbekommen. Dennoch war sie durch die Doppelbelastung mit ihrer Arbeit mehr und mehr mit den täglich anfallenden Pflichten im Haushalt überfordert, reagierte auf vieles mit Wut und Resignation. Begonnen hat das Chaos mit dem Ansammeln von ausgerissenen Blättern z. B. Rezepte oder interessante Artikel aus einer Zeitschrift, die sie aber nicht in einem Ordner gesammelt sondern überall in der Wohnung gestapelt hat. Habe ich ihr gesagt, dass ich mich im Vergleich zu den Häusern der anderen für den Zustand unserer Wohnung so langsam schäme, ist sie erst recht wütend geworden. Habe ich begonnen, ihre Papierberge wenigstens auf einen Haufen zu legen oder sogar in den Müll zu werfen, ist sie richtig ausgeflippt und hat mich beschuldigt, "wertvolle Dokumente" in Unordnung gebracht zu haben. Ihre klare Ansage war, ich soll die Finger von ihren Sachen lassen. Leider hat auch sie keinen Finger gerührt, um die Sachen in Ordnung zu bringen. Im Gegenteil, wöchentlich stapelten sich neue Dinge an. Einen gemeinsamen Nenner haben wir nie gefunden.

Mit 16 konnte ich eine eigene Wohnung in unserem Haus beziehen, da einer unserer langjährigen Mieter ins Altersheim musste. Von da an konnte man zusehen, wie sich ihre Wohnung und damit auch ihre Lebensqualität verschlechtert hat. Im Wohnzimmer, wo sie sich nur noch aufhält (bzw. aufhalten kann, das Schlafzimmer ist nicht mehr begehbar) schläft sie zwischen Tonnen an Zeitschriften, Zeitungen und ausgerissenen Blättern auf dem völlig durchgelegenen Sofa, überall Zentimeterdicker Staub. Es gibt keinen Raum mehr, den sie nicht zugemüllt hat, von der Hygiene im Badezimmer und in der Küche will ich jetzt gar nicht anfangen. Überall tropfen die Wasserhähne, es müssten dringend Reparaturen vorgenommen werden. Aber in diese Wohnung könnte man keinen Handwerker lassen, das weiß sie selbst und lebt unter immer schlimmer werdenden Umständen. Auch im Garten, ehemals ein schöner Garten, liegen wertlose Gegenstände und Krempel, den kein Mensch mehr braucht.

Ich schäme mich so sehr dafür, dass meine eigene Mutter so lebt. Inzwischen habe ich das Haus und auch die Umgebung komplett verlassen und versuche, das zu verdrängen. Aber immer wieder kommt unter den Leuten das Thema MESSIE auf. Wenn ich höre, wie angeekelt sie sind und wie brutal sie über die Betroffenen urteilen zieht sich mir der Magen zusammen und bete dafür, dass niemals jemand herausbekommt, wo ich herkomme.

Sie will und wird keine Hilfe annehmen. Ich habe sie direkt darauf angesprochen und bin auf eine Wand gestoßen, die unumstößlich ist. Sie ist mit diesem Thema durch. Deshalb frage ich diejenigen um Rat, die auch mit solch einem Familienmitglied zu tun haben. Wie kann ich mich damit abfinden, dass meiner Mutter nicht zu helfen ist? Hat es einen Sinn, sie immer mehr zu nerven, dass sie sich doch Hilfe sucht, auch wenn meine Chancen gering sind? Oder soll ich das Thema abhaken und sie aus meinem Leben streichen?

Ich bin dankbar um jeden, der mich versteht. Ich würde auch gerne die Meinung eines Betroffenen hören, der selbst mit der Krankheit zu kämpfen hat und mir mal aus seiner Sicht schildert, wie er sich fühlt. Dabei braucht es kein psychologisches Profil, mit dem theoretischen Hintergrund bin ich vertraut. Ich will es bloß verstehen, weil ich meine Mutter nicht verstehen kann.

Vielen Dank!!!


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02.07.2014 17:01
#2
No

hallo nucleolus,

herzlich willkommen im forum. das ist eine sehr traurige geschichte, aber eine möglichkeit da raus zu kommen besteht auf jeden fall!!! ich kann es dir nur aus meiner sicht erzählen, ich bin selbst ein messie und versuche gerade aus dieser verteufelten situation heraus zu finden.

um da wieder raus zu kommen, muss es klick bei deiner mutter machen.

>Ich schäme mich so sehr dafür, dass meine eigene Mutter so lebt. Inzwischen habe ich das Haus und auch die Umgebung komplett verlassen und versuche, das zu verdrängen. Aber immer wieder kommt unter den Leuten das Thema MESSIE auf. Wenn ich höre, wie angeekelt sie sind und wie brutal sie über die Betroffenen urteilen zieht sich mir der Magen zusammen und bete dafür, dass niemals jemand herausbekommt, wo ich herkomme. <

das ist das problem unserer gesellschaft. sie sehen nur die äußeren umstände, sie verstehen nicht den schmerz dahinter. messies sind nicht aus spass oder langeweile messies. es liegt ein oder mehrere probleme zu grunde, die sich für den betroffenen nicht anders lösen lassen. was ich hier gelernt habe ist: messies gibt es über all. egal ob frau oder mann, reich oder arm, arbeitsloser oder führungspersonen.. überall! meist sind messies sehr intelligent und im job in führungspositionen, haben selber große verantwortung. das ist auch oft das problem. durch druck von allen seiten suchen wir uns ein ventil. andere nehmen drogen oder trinken.

es kommt immer auf die einzelperson an, ob man mit druck oder vorsichtig dran geht. das ist schwer aber möglich. wie schätzt du deine mutter ein? wie hat sie vor der messie-zeit auf druck reagiert?

ich hoffe ich konnte dir vllt schon mal einen kleinen eindruck geben. es ist auf jeden fall möglich deine mutter da raus zu kriegen! es wird zwar ein langer und schwerer weg, aber wenn du dran bleibst, dann wird das schon!

Man kann die Welt oder sich selbst ändern. Das Zweite ist schwieriger.“ - Mark Twain


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02.07.2014 18:20
#3
Nu

Hallo NormalLife,

vielen Dank für deine liebe und zuversichtliche Antwort.

Um einem falschen Eindruck vorzubeugen, ich gehöre nicht zu den Leuten, die nur die Oberfläche sehen. Das liegt vielleicht daran, dass ich selbst depressiv bin und an einer phobischen Störung leide und daher weiß, dass nicht alles einfach ist, was einfach scheint. Trotzdem habe ich Glück, da ich mit meinen Problemen gut aufgefangen werde, eine sehr glückliche und kraftgebende Beziehung führe und meine Ziele erfolgreich verfolgen kann. Das gibt mir natürlich Halt.

Ich schäme mich nicht, eine kranke Mutter zu haben. Ich habe panische Angst, dass sich ihr Zustand herumspricht, weil es mir das Herz zerreißen würde, wenn sich die Leute vor ihr ekeln oder sich über die lustig machen. Das Schlimmste ist, dass ich sie noch nicht einmal verteidigen könnte, denn sie haben Recht.

Meine Mama ist sehr dünnhäutig. Das war sie schon immer aber es steigert sich. Sie hat keine Energie mehr. Auf Druck reagiert sie demnach zunächst mit Abwehr, wird laut und regt sich erst einmal so sehr auf, dass man nicht mehr an sie rankommt. Hat sich die erste Wut gelegt, bricht sie meistens ein, resigniert, weint und schickt mich weg. Als ich ihr bei unserer letzten Begegnung klar und deutlich gesagt habe, dass ihr Verhalten ihr ganzes Leben ruiniert, ist sie - natürlich - erst einmal sehr sehr wütend geworden, hat mich angeschrien und Beschuldigungen ausgesprochen. Gegen mich, gegen meinen Vater, gegen ihre eigene Mutter. Man muss dazu sagen, das sind nicht bloß Ausflüchte ihrerseits. Sie hat im Leben wahrlich viel kämpfen und dabei viel einstecken müssen. Sie hat nicht viel Glück im Leben gehabt.

Nun, rückblickend kann man schon sagen, dass sie komplett aufgegeben hat. Und sie steigert sich womöglich auch in den Gedanken rein, dass sie nichts mehr zu gewinnen hat. Bei dem oben genannten Gespräch habe ich ihr gesagt, dass sie sich Hilfe suchen sollte. Und ihre Antwort war klar: Ich gehe zu keinem Therapeuten mehr, ich gehe in keine Klinik. Punkt.

Darf ich dich fragen, wie das bei dir ist/war? Kostet der Gang zum Arzt wirklich solch eine Überwindung?

Danke!!!


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02.07.2014 19:06 (zuletzt bearbeitet: 02.07.2014 19:07)
#4
No

lieber nucleolus,

ich wollte dir auch nicht vorwerfen oberflächlich zu sein, keinesfalls! ich kenne das gefühl deiner mutter nur zu gut, man ist zu stolz sich helfen zu lassen. man denkt dass man das alles wieder alleine hin bekommt und dass das nur eine phase ist. das ist es nicht! ich habe das auch erfahren müssen. ich habe in meinem laben auch schon viel ablehnung erfahren müssen. man legt sich ein dickes fell zu, man lässt niemanden an sich heran, oft ist der müll oder das was man sammelt eine erweiterung. man baut sich eine festung damit niemand an einen ran kommt. wie du erwähnt hast, hat sie dir, deinem vater und ihrer mutter vorwürfe gemacht. das darfst du NICHT persönlich nehmen!!! ich gebe auch oft anderen die schuld an meinem versagen obwohl sie in den wenigsten fällen schuld daran haben. die meisten (ich eingeschlossen) versuchen dadurch den eigenen seelischen schmerz zu ertragen. für andere mag das befremdlich klingen, denn wenn sie stress haben machen sie sport oder irgendwas anderes was sie ablenkt. einige suchen sich ein anderes ventil. ich bin noch ein bisschen jünger aber habe auch oft gedacht dass alles keinen sinn hat. erst nach und nach lernt man das. den ersten schritt muss man selbst machen, da kann einem nicht geholfen werde. messie sein ist meiner meinung nach nur ein symptom, die eigentliche "krankheit" liegt tiefer, meist depressionen, die können nun mal verschiedenste ursachen haben. das läuft alles hand in hand.

zu deiner frage, ob der schritt zum arzt wirklich so schwer ist: von meiner seite aus ein ehrliches JA! ich kann mir vorstellen, dass deine mutter ähnlich wie ich, und auch viele andre messies eine soziale phobie hat, die kann verschieden ausgeprägt sein. wenn man das wort arzt hört, denkt man sofort an "krank sein", wenn man sich sein problem nicht eingesteht, sieht man nicht dass man krank ist. bei mir war es zb so, dass ich geglaubt habe, weiß es einer, wissen es alle, und das ist das schlimmste! da man auch leider oft sehr lange auf einen therapieplatz warten muss, fällt man sehr schnell wieder in diese antriebslose phase zurüch. irgendwann kümmert man sich nicht mehr darum.

ich möchte dir aber weiterhin zuversicht geben. vllt finden wir gemeinsam eine möglichkeit, deiner mutter klar zu machen, dass ihr leben noch schön sein kann. kopf hoch!

Man kann die Welt oder sich selbst ändern. Das Zweite ist schwieriger.“ - Mark Twain


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02.07.2014 20:38
#5
Ta

Ich heisse Dich auch willkommen in diesem Forum,lieber nucleolus ! Gross raten vermag ich nicht, NormalLife hat ja auch schon viel Hilfreiches geschrieben.
Ich kämpfe mich ja auch schon seit Jahren in winzigsten Schritten voran. Da hat mir ein Satz von diesem Forum geholfen : den anderen Menschen um das Messie - sein
herum zu lieben.............seitdem hat sich mein Selbstbild positiv verändert und ich denke nicht mehr nur negativ über mich selber.
Grüssele Mausohr


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