Vater der Freundin eventuell Messie? Bin unsicher...

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05.08.2014 17:48 (zuletzt bearbeitet: 05.08.2014 18:01)
#1
fl

Hallo zusammen,

ich brauche bitte mal einen Tipp bzw. eine Einschätzung von euch. Es geht um die Eltern meiner Freundin, sie wohnen in einer anderen Stadt, 165 km von uns entfernt.

Ihre Eltern waren immer sehr bequem und haben nur die allernötigsten Dinge getan. Hausputz? Einmal die Trampelpfade durchsaugen, das muss reichen. Staub wischen? Unnötig. Aufräumen, ausmisten? Nur, wenn es unumgänglich war.

Beide waren berufstätig und hatten nach eigener Aussage abends und am Wochenende keine Lust, sich auch noch zu Hause "anzustrengen". Stattdessen wurde ferngesehen, viel geraucht (3-4 Schachteln pro Person und Tag) und auch ordentlich Alkohol getrunken (Bier und Schnaps). Meiner Freundin war das im Kindes- und Jugendalter sehr unangenehm, da ihre Freunde sich über das Durcheinander, den Dreck und die ununterbrochene Raucherei in allen Räumen des Hauses (und ohne zu Lüften) lustig gemacht haben. Wenn sie die Eltern darauf angesprochen hat, hieß es nur, sie solle sich nicht so anstellen, das würde doch niemanden stören und sei alles okay so.

Reparaturen des Hauses wurden ähnlich gehandhabt. Die Türklinke des ehemaligen Kinderzimmers meiner Freundin fällt regelmäßig ab, so dass man die Türklinke vom Boden aufsammeln und erneut aufstecken muss? Da soll sie sich nicht anstellen. Die Fenster des Hauses sind aus Holz, 40 Jahre alt, verzogen und lassen sich größtenteils nicht mehr öffnen? Macht doch nichts, es muss ja nicht gelüftet werden. Ein Klosteinhalter wurde mit runtergespült und verstopft seit 10 Jahren die Gästetoilette? Macht auch nichts, es gibt ja noch eine zweite Toilette im Badezimmer. Die Heizleistung ist schlecht, weil sehr viel Luft in den Heizkörpern ist? Macht ebenfalls nichts, einfach das Heizungsventil weiter aufdrehen.

An mangelndem Geld für die Reparaturen lag es nicht, davon war und ist genug vorhanden.

Die Eltern waren sich also einig darin, das man es mit dem Aufräumen, Putzen und Reparieren nicht übertreiben muss. Ähnlich bequem haben sie es mit dem Wegräumen von Gegenständen, die man aktuell nicht braucht, gehalten: ab in einen der 5 Kellerräume damit und einfach in irgend eine Ecke stopfen. Auf die Frage, ob man den fraglichen Gegenstand nicht auch hätte wegwerfen können, kam die Antwort, dass dann durch diesen Gegenstand ja Platz in der Mülltonne belegt würde. Und wenn man dann überraschend Platz für andere Dinge in der Mülltonne bräuchte, diese voll wäre. Außerdem könne man den Gegenstand ja vielleicht nochmal brauchen...

Als die 5 Keller voll waren, wurde das Auto aus der Garage gefahren und die Garage vollgeräumt. Dort stapeln sich u.a. eine defekte Mikrowelle, ein ausrangierter Geschirrspüler, vom Wasser durchweichte und verzogene Sperrholzplatten und mehrere Generationen Fahrräder (wenn die weiter hinten stehenden Fahrräder zugeräumt waren, wurden neue gekauft und vorne vor gestellt, bis die ebenfalls zugeräumt waren).

Danach wurden zwei stattliche Lagerecken im Garten angelegt, über die die Nachbarn alles andere als glücklich sind.

Beim Einkauf wurden auch gerne ganze Papp-Paletten Lebensmittel gekauft, z.B. 12 Gläser Apfelmus, obwohl der Vater niemals Apfelmus isst und die Mutter nur äußerst selten. Begründung war, dass das Apfelmus im Angebot war und man ja sooo viel Geld gespart habe... Diese Lebensmittelmassen wurden anfangs noch in den Vorratskeller, später dann einfach in irgendeinen der Kellerräume geräumt. Später wurde ganz auf das "Einräumen" verzichtet und die volle Plastiktüte mit den Einkäufen wurde so wie sie war auf den Fußboden in einen der Keller gestellt. Herausgeholt wurde dort so gut wie nie etwas, weil das Suchen ja anstrengend gewesen wäre. Für den täglichen Bedarf benötigte Lebensmittel wurden also kurzfristig nachgekauft (und bei der Gelegenheit gleich wieder ein kleiner Vorrat mitgenommen...).

Die Mutter ist 1997 an Krebs erkrankt und vor zwei Jahren mit 64 Jahren daran gestorben. Seitdem lebt der Vater alleine in dem Haus (160 m²).

Meine Freundin und ich haben vor zwei Monaten angefangen, die Kellerräume aufzuräumen, da es aus dem Vorratskeller seltsam roch. Wir haben Lebensmittel mit Ablaufdaten ab 1998 gefunden. Mehr als 95 Prozent des Inhalt des Vorratskellers war über das Haltbarkeitsdatum. Einige Dosen haben auch im Regal angefangen zu gären, sind dort aufgeplatzt und ausgelaufen (daher der Geruch). Wir haben zwei randvolle PKW-Anhänger Lebensmittel aus dem Keller getragen und zur Müllkippe gefahren. Wir schätzen, dass es mehr als 2.500 EUR waren, die wir dort weggeworfen haben.

Als die Mutter noch lebte, hat sie sich um eingehende Post gekümmert: sie wurde geöffnet, gelesen, bezahlt (falls es eine Rechnung war) und dann wegsortiert.

Da die Mutter nun tot ist, müsste das jetzt der Vater übernehmen. Er sagt aber, das Wegsortieren sei zu aufwändig. So öffnet und liest er eingehende Post und bezahlt auch die Rechnungen. Danach legt er die Post auf einen Stuhl am Esstisch. Wenn der Stapel umzukippen droht, wird der komplette Stapel (eine bunte Mischung aus Kontoauszügen, Arztrechnungen, Versicherungsschreiben, Rentenbescheiden etc.) so wie er ist in den Keller geräumt - irgendwohin, wo er gerade einen Platz entdecken konnte. Dann geht das Spiel von vorne los. Wenn man den Vater um irgend ein Dokument bittet (z.B. Versicherungspolice), entgegnet er nur, das wäre unmöglich wiederzufinden - und versucht es auch gar nicht erst. Da könne man nichts machen, das sei halt so.

Vor zwei Monaten ist auch beim Vater (65 Jahre alt) Lungenkrebs diagnostiziert worden (wir haben ihn 1,5 Jahre gebeten, wegen seines komischen Hustens zum Arzt zu gehen, aber er hatte immer Begründungen, warum das gerade nicht geht). Er bekommt deswegen im Krankenhaus Chemotherapien. Seitdem ist er der Meinung, gar nichts mehr alleine machen zu können (obwohl es körperlich möglich ist, mit der Leiter aufs Dach klettern geht nämlich!). Sich Essen auf Rädern bestellen? Geht nicht. Haben wir also gemacht. Aufräumen, Belege sortieren, Überweisungen tätigen? Geht nicht. Sollen auch wir machen. Einkaufen? Geht nicht. Sollen die Nachbarn und wir erledigen.

Wir haben mit ihm schonmal über einen Umzug in unsere Gegend (damit wir nicht immer die 165 km zu fahren haben) gesprochen, auch über betreutes Wohnen. Beides lehnt er ab, weil es schwierig sei, mit den vielen Dingen umzuziehen - die er ja auch alle bräuchte.

Ich fasse also zusammen: das Haus ist voll. Die Garage ist voll. Die Gartenhütte ist voll. Der Garten ist voll. Der Kofferraum des Autos ist voll. Die Rückbank des Autos ist voll. Und es wird alles immer voller. Und der Vater sagt: "ja, ich weiß, ich bin ein Eichhörnchen, das ist halt so".

Aber: ungeöffnete Briefe, Ungezieferbefall, stehengebliebene Teller mit Essensresten - all das gibt es NICHT!

Ist das Messietum? Brauch der Vater Hilfe oder übertreiben wir (meine Freundin und ich)?

Danke für's Lesen!


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06.08.2014 02:42
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#2
Gast
( gelöscht )

Hallo flugerpel,

da ich mich an was anderem festgebissen hatte, und es jetzt schon ziemlich spät geworden ist, möchte ich nur kurz was zu deinem Text sagen:

Also, ich bin normalerweise mit einer Messie-ja-nein-Einschätzung sehr vorsichtig, da "Verwahrlosung" sehr subjektiv sein kann, abhängig vom eigenen Ordnungsempfinden. Deine Schilderungen der angehäuften Besitztümer und bestimmter Vorgehensweisen (die Papiere in den Keller stapeln z.B.) sind allerdings sehr dramatisch. Insofern bin ich mir hier recht sicher, dass es sich um einen "echten" Messie handelt. DEN Messie als Typus, bei dem immer gleichbleibende Kriterien erfüllt sein müssen, gibt es allerdings nicht.

Was ich nicht ganz verstanden habe, ist wo deine Freundin denn aktuell lebt. Noch in dem Haus, oder in ihren eigenen vier Wänden?

Das wäre nämlich wichtig zu wissen, weil sich daraus (mindestens) zwei höchst unterschiedliche Strategievorschläge ergeben würden. Wenn ein Nicht-Messie mit einem Messie unter einem Dach leben "muss" (da wäre schon die erste Frage: Muss sie das denn wirklich, oder gibts da auch ne andere Lösung), sieht es immer anders aus, als wenn der Messie für sich allein lebt.


Kurz anreißen möchte ich noch zwei Dinge:

Mir ist aufgefallen, dass du mit enormer Verachtung über ihn sprichst. Die kann ich dir nachvollziehen, aber es ist nicht hilfreich. Nützlicher wäre es, zu versuchen, zu erkennen bzw zu akzeptieren, dass es sich dabei um eine besondere Krankheit handelt, eine psychische Störung, für die er ebenso wenig etwas kann, wie meinetwegen für einen Ausschlag.



Interessant finde ich die "eskalierende Resignation", die du beschreibst. Die Begründung, warum man sich mit Haushalt machen nicht abquälen will, wenn man den ganzen Tag mit harter Arbeit verbracht hat, findet man ja beinahe noch einleuchtend. Aber am Ende steht die totale Resignation. Es bringt nichts, da kann man nichts machen, ist halt so. Das heißt aber auch, dass er durchaus sieht, dass bei ihm etwas nicht stimmt (es gibt viele, die das ausblenden, und sich gegen entsprechende Hinweise wütend und empört wehren, oder automatisch in den Rechtfertigungsmodus verfallen), aber er hat vielleicht einfach keine Kraft (mehr), um sich dazu aufzuraffen, etwas gegen seine Verwahrlosung zu unternehmen. Warum ihm die Kraft fehlt, darüber kann man nur spekulieren, es könnten Depressionen sein, es könnte auch schlichtweg sein, dass die Aufgabe zu gewaltig geworden ist, oder ein Auswuchs seiner Beziehung zu seiner verstorbenen Ehefrau...
Es besteht eventuell die Möglichkeit, ihn zu erreichen, zu ihm durchzudringen, wenn ihr die Ursache herausfindet, warum er gegen seine Verwahrlosung nichts unternimmt. Aber eine Garantie wäre das auch nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob es dir überhaupt darum gehen würde. Ob du dazu bereit wärst.

Jedenfalls hat er sich damit jetzt irgendwie arrangiert, sein Leben auf ein erträgliches Format zusammengeschrumpft, und kommt damit zurecht.
Das macht es schwierig, ihn aus seiner Lethargie reißen zu wollen. Wie immer gilt: Helfen kann man nur dem, der Hilfe will. Will er keine, so ist es im Großen und Ganzen sein Recht, so zu leben, auch wenn andere dieses Leben unerträglich fänden - er erträgt es ja nun einmal.
Und deshalb sähe es auch anders aus, wenn deine Freundin mit dort leben muss. Dann muss eine andere Lösung her, und da wäre es tatsächlich am einfachsten, wenn sie auszieht, wartet, bis ihr Vater irgendwann verstorben ist, und dann eine Großentrümpelung initiiert. Wenn das gar nicht möglich ist, dann hilft wohl nur, sich durchzubeißen (ich weiß, wie kaltschnäuzig das gerade klingt), und die notwendigen Dinge selbst zu übernehmen. Die Türklinke selbst reparieren, lüften, Heizungen entlüften...und so weiter. Um es für sich selbst lebenswert zu gestalten. Oder zumindest lebenswerter. Wie wenig Appetit man auf diese Lösung hat, kann ich mir lebhaft ausmalen, nur - sofern eben die Alternative, dort auszuziehen nicht besteht - würde sie in die gleiche Lethargie verfallen wie er, wenn sie den Zustand einfach so hinnähme, wie er ist. Mit dem vollen Risiko, irgendwann selbst auf dem Haufen Müll zu sitzen, und sich zu sagen "Ist halt so, da kann man nichts machen".




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06.08.2014 09:24
avatar  ThommyD
#3
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...ich denke, alles fängt irgendwie harmlos an, bis man dann zu dem Schluss kommt, ja, es ist ein Messi oder Alkoholiker oder Magersüchtiger oder... Das geht schleppend, langsam und es ist schwer zu entscheiden, wann fremde Hilfe notwendig oder geboten ist.

Wenn man den Betroffenen fragt oder Hilfe anbietet, redet man mit einem Blinden über die Farbe!! Derjenige hat einfach einen anderen Maßstab von Ordnung bzw. ist damit völlig überfordert und redet alles schön! Und tatsächlich ist die Definition von "unhaltbarem Zustand" oder "unzumutbaren Lebensumständen" sehr weit gefächert.

Wenn sich Deine Freundin unwohl fühlt, gibt es für sie zwei Möglichkeiten: 1. Sie sucht sich Hilfe, wie Dich, und räumt mit dem Einverständnis des Vaters selbst auf! Dabei sollte sie den Vater insofern einbeziehen, dass er weiß, was passiert, um ihn nicht zu verunsichern und sein Vertrauen zu verlieren. Ich gehe davon aus, dass es ihm egal ist, ob die Dinge rum liegen oder nicht, aber sicher hat er ein paar Dinge, die ihm schon wichtig sind und es ist ganz wichtig, das zu respektieren. Mit ihm zusammen kann man für diese Dinge einen sinnvollen Platz finden!

Die zweite Möglichkeit wäre, wenn der Vater sich vehement wehrt, auszuziehen. Denn man kann einen Menschen nicht zu seinem "Glück" zwingen, wenn nicht Gefahr im Verzug ist oder die Gesundheit extrem gefährdet ist. Und nach Deiner Beschreibung liegt das hier nicht vor!

Ich wünsche Dir viel Erfolg bei Deinen Bemühungen, hier zu helfen. Falls Du Unterstützung auch beim Aufräumen brauchst, melde Dich bei mir!!
Liebe Grüße
Thommy


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06.08.2014 18:00
#4
fl

Hallo numi,

danke für deine Antwort!

Meine Freundin ist vor 15 Jahren bei ihren Eltern ausgezogen. Bis auf unsere Wochenend-Besuche dort (früher ca. alle 6 Wochen, seit dem Tod der Mutter alle 2-3 Wochen) wohnt sie also nicht mehr dort.

Es erschreckt mich, dass ich offensichtlich mit enormer Verachtung über den Vater meiner Freundin spreche. Ich habe mir meinen Text nochmal durchgelesen und habe darin nichts gefunden, das ich als enorm verachtend ansehe. Aber du hast Recht, ich bin häufiger mal auf 180, wenn der Vater den ganzen Tag rauchend und ab mittags auch biertrinkend in den Fernseher guckt und meiner Freundin und mir dabei zuguckt, wie wir Berufstätigen unsere Wochenenden dafür nutzen, Dinge in seinem Haus erledigen, auf die er (meiner Wahrnehmung nach) keine Lust hat. Das liest man wahrscheinlich zwischen den Zeilen raus. Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie man den ganzen Tag gar nichts macht und dann abends jammert, dass es langweilig ist und man ja nichts dran ändern kann, dass alles durcheinander ist. Aber du hast schon Recht, ich muss mir vor Augen führen, dass es wahrscheinlich eine Krankheit ist.

Trotzdem möchte ich betonen, dass der Vater meiner Freundin ein netter Kerl ist. Und weil ich ihm helfen will, räume ich seit Wochen in seinem Keller auf und organisiere telefonisch sein Mittagessen. Und aus diesem Grund habe ich auch hier geschrieben. Außerdem sehe ich, wie meine Freundin unter den Zuständen bei ihrem Vaters leidet.

Über Depressionen haben wir auch schon nachgedacht und haben ihn gebeten, mit einem Psychologen zu reden. Das hat er abgelehnt, weil er schon jetzt weiß, dass der Psychologe ihm nicht helfen kann. Und weil er die Zeit für einen Psychologenbesuch nicht hat (wie gesagt, er sitzt von morgens bis abends in seinem Fernsehsessel...).

Die kleineren Reparaturen habe ich schon selbst in die Hand genommen (Türklinke, Heizung, nicht mehr öffnende Rollos...), aber es wurde halt jedesmal diskutiert, dass das eigentlich nicht nötig sei. Bei der Heizung hieß es, dass sie durch die Entlüftung ja kaputtgehen könne (habe ich noch nie gehört!) und ich deswegen nichts machen soll. Wir hatten einen handfesten Streit deswegen.

Er ist sich schon darüber im Klaren, dass er sehr viel Kram aufhebt, stellt das aber als unabänderlich dar. Wenn man ihn bittet, etwas aufzuräumen, kommt erst die genervte Rückfrage "aber doch nicht dieses Wochenende, oder?" und er kündigt an, das "später" zu tun. "Später" wird immer wieder verschoben und erfolgt schlussendlich gar nicht.

Die Ursache für das Nichtstun wird wohl nur ein Psychologe herausfinden können. Leider weiß er schon ohne jemals bei einem Psychologen gewesen zu sein, dass der ihm nicht helfen können wird. Aus meiner Sicht wieder nur eine Ausrede, um beim Nichtstun bleiben zu können.


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06.08.2014 19:25 (zuletzt bearbeitet: 06.08.2014 19:29)
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#5
Gast
( gelöscht )

Es ist auf jeden Fall mehr, wie du es sagst, als was du sagst, ja. Zwischen den Zeilen schlägt sie mir entgegen, deine Verachtung für seinen Lebensstil, und auch dafür, wie er und seine Frau früher mit ihren Kindern umgingen. Lieblos, desinteressiert, an der Grenze zur Verwahrlosung, oder vielleicht sogar darüber.
Wenn Kinder betroffen sind, auch wenn es vielleicht Jugendliche sind, werde ich immer hellhörig, da da der Fall noch mal etwas anders liegt, als wenn jemand nur für sich allein entscheidet, so zu leben. Kindern, die keine Wahl haben, ein solches Leben zuzumuten, trifft auch mich immer hart.

Dass du vor allem Mitleid mit deiner Freundin hast, brauchtest du nicht einmal anzudeuten. Dass du den Vater eigentlich nett findest, und ihm helfen willst, war jetzt für mich neu, und find ich gut.


Dass der Mann endlos, sinnlos diskutiert, obwohl du ihm ja eigentlich nur helfen willst, verwirrt dich, und verärgert dich wahrscheinlich auch sehr. Ich versuche, dir eine relativ einfache, wahrscheinliche Erklärung dafür zu geben, weil ich persönlich es immer hilfreich finde, wenn ich herausfinde, warum etwas so passiert, wie es passiert, wenn ich es mir nicht mit einer gewissen Logik/Rationalität erklären kann.
Es ist wahrscheinliche eine Art Schutzmechanismus, den er anwendet, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Das klingt jetzt erst mal völlig bekloppt, aber wenn er sich mit der Situation, so, wie sie jetzt ist, arrangieren konnte, wenn er damit zurecht kommt, dann ist das, was er am meisten fürchtet, die Veränderung. Denn eine Veränderung bedeutet auf jeden Fall eine Neuanpassung, eine Neudefinition seines Arrangements. Es muss unfassbar schwer gewesen sein, viel Kraft gekostet haben, Millionen Dinge auszublenden, beiseite zu schieben, zu verdrängen. Nicht mehr darüber nachzudenken, dass man selbst im Chaos lebt. Dass die eigenen Kinder so leben müssen, und das alles nur, weil man es aus unerklärlichen Gründen nicht auf die Reihe bekommt, die alltäglichen Dinge zu erledigen. Ich sprach eingangs von der "totalen Resignation". Die hat er erreicht.

Jetzt hat er sich endlich irgendwie damit abgefunden. Seinen Frieden gefunden.


Und dann kommst du.

Du erinnerst ihn daran, dass da diese Millionen verdrängter Dinge brachliegen. Du wühlst das alles wieder auf. Und deshalb sagt er dir die Dinge, die er sich selbst immer wieder eingeredet hat, um vergessen zu können, um verdrängen zu können, um nicht erledigen zu müssen. So lange eingeredet, bis er sie selbst glaubt. Eine Heizung geht nicht davon kaputt, dass man sie entlüftet, sondern sie geht davon kaputt, wenn man es nicht tut. Aber er hat sich da eine Art Scheinrealität aufgebaut, und diese droht nun, zu zerbrechen, weil du daran rüttelst. Dagegen wehrt er sich. Dass das unlogisch ist, dass du ihn aus seiner dysfunktionalen Scheinwelt in eine funktionale Realität übersiedeln könntest, wenn er dich nur ließe, das begreift er nicht.


Für dich ist es immens wichtig, dass du dich nicht allzu tief in seinen inneren Konflikt hinein ziehen lässt. Es ist gut, Mitleid zu haben, aber es kann dich auch auffressen, vor allem, wenn du bereits deine ganze Kraft in vorherige Diskussionen investieren musst, anstatt sie in die aktive Hilfe zu investieren, das wirkt extrem auslaugend, und ja - es macht unfassbar reizbar. Eine gereizte Stimmung ist aber das letzte, was ihr gebrauchen könnt. Was er gebrauchen kann. Im Grunde bräuchtest du Engelsgeduld. Das Verständnis, dass er sich nur sehr langsam aus dieser Scheinrealität lösen können wird - wenn überhaupt.
Und du musst höllisch aufpassen, dass du dabei nicht deine eigene, ganze Kraft an seinen Problemen verausgabst, denn du hast auch ein Leben. Du bist nicht verantwortlich für die Lösung seiner Probleme. Nicht einmal seine Tochter wäre das, und du stehst ihm noch weniger nahe.

Und dann steht man schließlich vor der Frage "Warum eigentlich?" Warum soll man jemanden zu seinem Glück zwingen, der das gar nicht will? Und im nächsten Schritt: Was ist überhaupt die Definition von Glück? Oder wenigstens Zufriedenheit?
In diesem Fall hieße es, ihn in ein Leben zu führen, das nach allgemeiner Definition zufriedenstellend wäre. Wo es ordentlich und sauber ist, wo man vielleicht eine Aufgabe im Leben hat, Beschäftigung, Freunde. Und jetzt kommt der wirklich brutale Teil. Versprich mir, nicht empört nach Luft zu schnappen, denn ich meine es wirklich nicht böse, wenn ich das sage, sondern ich meine es gut - mit dir.

Du hast nicht das Recht, für ihn zu definieren, wie er leben sollte, um zufrieden zu sein.

Du kannst ihn verachten, du kannst ihn verurteilen. Du kannst ihn bemitleiden. Aber du kannst ihn nicht ändern. Das kann er nur selbst. Und wenn er das nicht WILL, dann ist das eben so. Ganz offiziell im Grundgesetz verankert, das Recht auf Selbstbestimmung.

Du könntest dich kundig machen, ob man ihm sein Recht auf Selbstbestimmung ganz oder in Teilen entziehen könnte (früher nannte man das Entmündigung, aber in der Form gibt es die seit über 20 Jahren nicht mehr), und ein Betreuer eingesetzt wird, der sich um die Regelung seines Lebensalltags (ganz oder in Teilen) kümmern würde. Da er aber einerseits seine Rechnungen stets bezahlt, und andererseits schon bei bisherigen Gesprächen alles abgelehnt hat, was in diese Richtung geht, sehe ich da schlechte Erfolgschancen (und das ist auch gut so, denn die Prozedur des Entmündigens ist absolut zu Recht massiv erschwert worden). Ohne seine Zustimmung ginge gar nichts, denn ein besonders schwerer Fall im juristischen Sinne ist er nicht.


Also. Du kannst IHN nicht ändern. Und du wirst auf juristischem Wege sehr wahrscheinlich rein gar nichts ausrichten können.



Was bleibt übrig?


Du kannst dich ändern. Deine Art, mit ihm umzugehen. Du kannst den Teufelskreis durchbrechen.




Wenn ich deine Verachtung durch ein paar geschriebene Zeilen spüren kann, dann bin ich mir sehr sicher, er spürt sie auch. Messies sind dafür nämlich oft besonders feinfühlig.
Und auch wenn es dir schwer fallen sollte, deine Verachtung beiseite zu schieben, und ihm die Wertschätzung entgegen zu bringen, die du - so hast du es gesagt - ja für ihn empfindest, so ist es doch die beste Möglichkeit, auf ihn zuzugehen. Um sich dazu überwinden zu können, hilft es, seine eigene Wahrnehmung zu verschieben. Weg von den Symptomen, in denen sich die Krankheit zeigt, und hin zu dem kranken, menschlichen Wesen, das unter diesem ganzen Schrott verschüttet wurde. Dem ein Wort der Anerkennung (auch wenn es in deinen Augen nichts Anerkennenswertes gibt) mehr nutzt, als eine Reparaturarbeit, die ihn nur schmerzlich daran erinnert, dass er selbst dazu nicht fähig war, obwohl es - für dich - doch "nur eine Kleinigkeit" war.

Ihr müsstet ihn dazu bewegen, winzige, winzige Schritte zu unternehmen, die Kontrolle über sein Leben wieder zurück zu erlangen, und dann loben, loben, loben. Auf Rückschläge gefasst sein, und cool bleiben. Und nun erkennst du womöglich auch, warum nicht nur diese Einmischungen, die seine Scheinrealität in Gefahr bringen, sehr heikel sind, sondern auch euer Bestreben, für ihn Dinge zu organisieren, ihm abzunehmen.

Damit macht ihr es ihm zu einfach, in seiner Lethargie hängen zu bleiben. Es ist nicht nötig, dass er sich da herauskämpft. Ihr regelt das ja für ihn. Alles, was zwingend notwendigerweise geregelt werden muss, darum kümmert ihr euch - darauf kann er sich verlassen. Und das, was dann noch übrig bleibt, ist egal. Das kann liegen bleiben. Nichts, rein gar nichts in dieser Welt drängt ihn in die Richtung, in der ihr ihn gern hättet. Nicht einmal ihr selbst.


Überleg mal:


- Die Dinge, von denen er NICHT will, dass ihr sie erledigt, die drängst du ihm regelrecht auf. Setzt gegen seinen Widerstand durch, Reparaturen zu erledigen.

- Die Dinge, von denen er WILL, dass ihr sie für ihn erledigt, auf die hast du eigentlich keinen Bock, und ärgerst dich, dass er das nicht allein auf die Reihe bekommt, obwohl er das eigentlich können müsste.


Wenn man es so nüchtern betrachtet, ist nicht nur sein, sondern auch dein eigenes Verhalten schon völlig irrational, oder?

Achtung, hier geht es nicht um Vorwürfe, oder Schuldzuweisungen. Du bist nicht Schuld an irgendwas. Ich will dir nur aufzeigen, dass du dich bereits mehr auf diese irrationale Welt eingelassen hast, als dir wahrscheinlich bewusst ist.


Also, wenn er sein irrationales Verhalten nicht ändert, dann ändere du deins.



- Die Dinge, von denen er nicht will, dass du sie erledigst, die erledigst du nicht mehr. Du kannst es ihm anbieten, und wenn er sagt "Nein!", dann sagst du einfach nur "Okay, dann nicht."

- Die Dinge, von denen er will, dass du sie erledigst, die lässt du ab jetzt bleiben.


Den ersten Teil zu ändern ist sehr einfach, denn etwas bleiben zu lassen, ist immer einfacher, als sich zu überwinden, aktiv zu werden. Beim zweiten Teil wird es ungleich schwieriger, denn dagegen wird er sich wehren. Das A und O ist aber dabei, dass alle direkt Beteiligten (hier also deine Freundin, die Nachbarn und andere, die ihn in seiner Passivität "unterstützen" mit dir an einem Strang ziehen. Sie müssen alle eingeweiht und überzeugt werden, ihm nicht mehr zu helfen. Daran bin ich schon im Vorfeld bei der Familie meines Schwiegervaters gescheitert, wegen dem ich hier gelandet war. Die haben sich ebenfalls mit einer (für mich) unerträglichen Situation arrangiert, und ich bin nun der unliebsame Störfaktor, der die Pseudo-Harmonie, in die sie sich gelullt haben, immer wieder in Frage stellt. So traurig es klingt, aber auch für das Umfeld kann es einfacher sein, ihm die Dinge abzunehmen, als die Konflikte auszutragen, die sich entwickeln werden, wenn man sich zu weigern beginnt.
Für mich war es ein langer Prozess, mich von meinem Bedürfnis, meinem Schwiegervater (und damit dem Rest der Familie) helfen zu wollen, zu verabschieden. Ich wünsche dir jedoch, dass du beim Umfeld deines "Schwiegervaters" mehr Erfolg haben wirst als ich. Vielleicht warten die - anders als meine angeheiratete Familie - nur auf die Gelegenheit, sich endlich aus ihrer Ko-Abhängigkeit zu befreien. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es nicht so ist. Das sind Mechanismen, die sich schon eingespielt haben, lange bevor du in das Leben deiner Freundin getreten bist. So etwas durchbricht man nicht einfach so. Anders wäre es, wenn man der einzige Angehörige wäre, der Dreh- und Angelpunkt im Leben des Betroffenen. Aber das ist hier nicht der Fall, und ebenso wenig wie dich Schuld dafür trifft, dass die Zustände so sind, wie sie sind, so trifft dich auch keine Schuld, wenn du sie nicht ändern kannst.


Lesevorschläge:

- "Menschen manipulieren - aber richtig" (Strategievorschläge zum Analysieren und Durchbrechen von Teufelskreisen)
- Wikipedia "Co-Abhängigkeit"/Co-Alkoholismus (Erkenntnisse über das unbewusst schädliche, eigene Verhalten bzw das Verhalten des Umfeldes eines psychisch Kranken im weitesten Sinne)
- Manfred Josefs Betreuerblog (manfredjosef.wordpress.com) - (Anekdoten aus dem Alltag eines staatlichen Betreuers, sehr nützlich, um emotionale Distanz aufzubauen, und um ein Verständnis dafür zu gewinnen, dass andere Menschen teils vollkommen unverständliche Lebenskonzepte entwerfen; dass sie ein Recht darauf haben, diese selbstbestimmt leben zu dürfen, und wie man damit umgeht, wenn man mit diesen Lebenskonzepten konfrontiert wird)


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