mein freund ist mit Ordnung überfordert

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21.05.2015 18:28
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#11
Gast
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Man muss sicher nicht behindert sein, um nicht genügend Resilienz beigebracht zu bekommen, aber es trifft Behinderte wahrscheinlich häufiger, als nichtbehinderte Kinder, das glaube ich auch.
Resilienz heißt ja Widerstandsfähigkeit, und in dem Zusammenhang die "Fähigkeit, im Leben zurecht zu kommen" - auch und ganz besonders mit Schwierigkeiten. Resilienzförderung bedeutet, gezielt die Stärken eines Menschen zu fördern, und nicht immer nur darauf bedacht zu sein, seine Schwächen auszugleichen (und vor dem Ausgleich steht immer erst einmal der Hinweis, dass da eine Schwäche vorhanden ist).

Unser Schulsystem ist ganz klar auf Schwächenausgleich ausgelegt, und das ist ein extremer Nachteil, dessen man sich in den letzten Jahren immer deutlicher bewusst wird: Alles läuft gemütlich vor sich hin, bis das Kind eine 5 in Mathe heimbringt - dann wird Alarm geschlagen. Die Lehrer weisen die Eltern darauf hin, wenn das Kind den Unterricht stört, oder ihm nicht folgen kann, also wenn seine Schwächen auffallen. Aber niemand wird in die Schule zitiert, um ihm zu sagen, dass sein Kind total hilfsbereit, engagiert und künstlerisch begabt ist. Auf diese Weise entsteht ein negatives Zerrbild der Person - bei der Umwelt, aber auch bei der Person selbst. Das Kind erlebt sich dann als Versager, weil ihm immer nur aufgezählt wird, was es alles nicht kann.
Es ist eine altbekannte Tatsache, dass viele Abgänger auch in den höheren Bildungswegen oft keine Ahnung haben, wo eigentlich ihre Stärken liegen. Niemand hat das mit ihnen herausgearbeitet, sondern es ist obendrein auch noch in unserer Gesellschaft verpönt, sich selbst zu loben, und zum Beispiel zu sagen: "Ich bin echt gut darin, anderen Menschen etwas beizubringen" oder "im Umgang mit Tieren", oder "ich kann toll organisieren" oder "mir unheimlich gut Dinge merken". Aber genau diese Kenntnisse helfen dabei, in welche Richtung man sich entwickeln möchte. Dafür wissen wir aber genau, dass wir schlecht in Mathe sind, oder Pfeifen im Sport, und wir wählen irgendetwas, in dem diese Schwachpunkte möglichst nicht vorkommen.

Ein Behinderter, bei dem der Fokus immer nur auf die Behinderung gelegt wird, definiert sich selbst dann auch über den Nachteil. Er sieht, was er alles nicht kann, aber nicht, was er - stattdessen - kann. Worin er gut ist.

Resilienzförderung in der Schule


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21.05.2015 23:00
avatar  julika
#12
ju

mmmh, zu diesem Thema kann ich leider nicht so viel sagen, außer dass ich selbst auch icht gerade resilient bin, obwohl ich sehr gut in der Schule war und in den letzten Jahren daran gearbeitet habe, meine Widerstandskraft zu wecken. Gekostet hat mich das ein wenig meine berufliche Laufbahn- schief und schräg, und unnutzbar für die Gesellschaft (krass formuliert) aber das ist ja nicht hier Thema.

Aber kurz news zu meinem Experiment:

Also das mit dem Lob ist faszinierend. Es fällt mir zwar immer schwer, eine kreative "Lob-Lösung" zu finden, aber ganz leicht habe ich den Eindruck, als das es klappt.

ich bin gestern zu ihm. Die Wäsche lag im Wohnzimmer auf dem Boden. Ich habe es gesehen und den Reflex "Aber warum hast du denn nicht..." unterdrückt. Stattdessen habe ich gesagt, oh coll dass du die Wäsche abgenommen hast.
Zudem hat er seit meinem letzten Besuch alles stehen, vergammelt und liegen gelassen, dazu habe ich nichts gesagt, sondern mich einfach hingesetzt und ihn abwaschen lassen, und kochen.
Eigentlich hatte ich ihm eine kleine Überraschung verprochen, wenn er seine Orga-Sachen schon erledigt hat, bevor ich komme...weil er wollte, dass ich das nicht mache. Die hat er sdann für die Wäsche bekommen...

Was passiert am nächsten Morgen, er macht die Wäsche alleine an. hat er noch nie gemacht...

wir sehen weiter...


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22.05.2015 09:44 (zuletzt bearbeitet: 22.05.2015 10:00)
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#13
Gast
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Und ich bin sehr, sehr gespannt, wie es weitergeht. Und ich glaube, ganz viele andere Angehörige auch, denn du weißt aus eigener Erfahrung, dass das Überwindung kostet, aber wenn man bei anderen lesen kann, dass es was bringt, tut man sich damit leichter. Also bitte bitte, berichte weiter =)


"Was passiert am nächsten Morgen, er macht die Wäsche alleine an. hat er noch nie gemacht..."
Du hast es leider nicht geschrieben, aber ich nehme stark an, dass du ihn dafür dann auch sofort deutlich gelobt hast, ja? Das ist dieser "Hauch von Eigeninitiative", von dem ich schrieb ;)


Übrigens, sag nicht, dass es hier nicht um dich geht. Es geht auch um dich. Es ist dein Leidensdruck, der dich hierher geführt hat, und du nimmst Einfluss auf deinen Freund. Es hängt also viel von deinem seelischen und körperlichen Wohlbefinden ab, und wenn du etwas über dich herausfindest, das wiederum dazu führen kann, dass deine Lebensqualität verbessert wird (oder sagen wir, das deine Resilienz fördert), dann ist das ein klarer Vorteil - für euch beide.


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01.06.2015 16:21
avatar  julika
#14
ju

Hallo, und nun wollte ich mal wieder einen Zwischenbericht abgeben.

Ich habe den Eindruck, dass unsere Beziehung zur Zeit sehr wenig Negatives hat, da ich einfach nicht mehr "meckere". Zudem ist mein Freund mir gegenüber sehr aufmerksam und überrascht mich. Beispielsweise hat er mir während meiner Abwesenheit etwas am PC vorbereitet, worum ich ihn gebeten hatte, aber es nicht weiter "verlangt". Dann hat er Blumen überall aufgestellt, als Überraschung, wenn ich nach Hause komme. Das hat mich sehr überrascht und sowas , was ja etwas Eigenmotivation abverlangt, hat er im letzten Jahr nicht gemacht!!

Mit dem Aufräumen klappt es bei mir ganz gut - ich räume ihm nicht mehr "so" sehr hinterher, aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich diese Grundordnung habe. Und wenn wir zusammen kochen redet er manchmal so sätze wie "Ach ja, immer gleich wegräumen" vor sich hin. Da finde ich sehr süß. Ich versuche mich bei ihm für kleinigkeiten zu bedanken - aber sicher erfordert das von mir eine gewisse strategische Disziplin. Ich hoffe , die habe ich noch eine Weile.

Aber das Problem mit seiner Wohnung bleibt und da weiß ich nicht, wie ich es lösen soll: Jetzt war ich eine Woche weg. Und nun lässt er mich nicht zu sich, weil es zu unordentlich ist. Also dass er so schlampig allein vor sich hin lebt und viel kifft, bleibt weiterhin. Als wir diese Woche telefoniert haben, während ich weg war hat er auch sowas gesagt, wie "Ja ich merke sschon, dass ich nicht so lust auf Menschen habe..."

Aber genau das ist ja sein Problem , dass er sich dann so abschottet, und vermüllt. Wenn ich so leben würde, würde mir das Selbe passieren. Wenn man unter Menschen ist, passiert das gar nicht so einfach. Es ist ihm ja auch peinlich - beispielsweise sind wir gestern mit einem Kumpel spontan von mir aus zu einem Geburtstag gezogen, und weil wir zu spät waren, habe ich gefragt, ob wir mit seinem Auto fahren- Das ist auch vermüllt, und er wollte erst partout nicht mit dem Auto fahren- weil ihm bewusst war, dass er sich schämen wird. Komisch - vor mir schämt er sich nicht.

Also ich sehe der Sache weiter mit Geduld entgegen, und wirklich, ich bekomme ja auch durch die Loberei Positive Reaktionen zurück. Ich habe ihn wirklich sehr gern.


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01.06.2015 17:29
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#15
Gast
( gelöscht )

Hey julika,

freut mich, dass es sich bei euch positiv entwickelt. Das Problem ist nicht über Nacht entstanden, und löst sich auch nicht über Nacht. Entscheidend ist, dass es funktioniert, ihn durch positive Verstärker zu motivieren. Denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass ihn eben (möglicherweise nicht allein, aber auf jeden Fall ist sie vorhanden und kann gemildert werden) eine Antriebsstörung plagt.
Es gilt, diese in verschiedenen Lebensbereichen anzugehen - mit unterschiedlichen positiven Verstärkern.

Beispielsweise das Auto als Leistung, und das schamfreie Treffen als Belohnung setzen:

"Schatz, lass uns morgen Vormittag dein Auto auf Vordermann bringen, dann könnten wir danach mit unserem Kumpel X zum Eisessen fahren"

Für ihn ist es wichtig, diese Erfahrung zu machen, ohne Schamgefühl hinfahren zu können. Betrachten wir es als Huhn-oder-Ei-Frage, was zuerst da war:

"Wenn ich mich isoliere, ist es klar, dass ich vermülle"
oder
"Ich isoliere mich, weil ich vermüllt bin und mich dessen schäme"

dann merken wir: Eigentlich ist es total egal, was zuerst da war. Entscheidend ist, dass es sich um einen Teufelskreis handelt, der immer weiter ins Verderben führt: Mehr Müll und tiefere Isolation.

Dass er auf dich so positiv reagiert, lässt mich schlussfolgern: Er will, aber er muss lernen, wie. Das Technische ist nicht wirklich das Problem. Er braucht Gründe. Anlässe.

Meine Empfehlung: Lies hiervon mal den zweiten Teil. Der ist durch eine gestrichelte Linie kenntlich gemacht, und zwar speziell den Abschnitt nach dem fett markierten

Auf "negative Verstärker" (Angst, Scham, Druck) soll eine Zeitlang strikt verzichtet werden. Stattdessen sollen gezielt positive Verstärker eingesetzt werden (Lob, Dank, Komplimente, Anerkennung).

Da geht es darum, wie Aufgabenstellungen für Betroffene aussehen können. Deine Situation mit der Wäsche habe ich da übrigens als Beispielsituation aufgenommen; es ist eine überarbeitete Version des Textes, den wir hier für die Betroffenen haben, nur eben speziell für Angehörige und deren Möglichkeiten, positive Verstärker zu benutzen, formuliert.


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