Haben oder Sein?

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08.08.2023 13:43 (zuletzt bearbeitet: 08.08.2023 17:44)
avatar  Robin
#1
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Hallo,

@Draculara schrieb im Thread "Erfahrungsbericht: wie ich meiner Messie-Freundin beim Räumen helfe":

Zitat
Stimmt, vom Menschen als Messie zu sprechen, ist falsch. Ich bin ja auch kein Hashimoto oder Diabetes. Ärzte können so reden, aber wir sind keine Krankheit, wir haben einfach eine.



Das ist für mich Anlass, mal wieder diese Ursachenfrage aufzuwerfern, diesmal mit dem Fokus auf "Haben oder Sein?"

Es ist nämlich so, dass Aspies (Menschen mit Asperger-Syndrom, einer milden Form von Autismus) genau umgekehrt argumentieren: Wir sagen, dass wir keine "Krankheit" haben, sondern nunmal so sind als Teil der natürlichen Varianz der Spezies Mensch. Also so, wie es eben Linkshänder und Rechtshänder, helle und dunkle Menschen, kurze und lange und solche mit Sommersprossen gibt, gibt es auch Menschen mit unterschiedlichen neurologischen Beschaffenheiten. Klar ist: Nicht alle Arten von Beschaffenheit sind in jeder Lebenslage vorteilhaft. Eine "Behinderung" ist somit ein Konstrukt, dass nicht nur das Individuum beschreibt, das eine bestimmte Leistung nicht bringt, sondern immer auch die Gesellschaft, die eine solche Leistung erfordert. Z.B. auf Messies bezogen: In einer Mangelgesellschaft mit absoluter Armut gibt es keine Messies. Dort heben alle Leute Dinge auf, die man noch gebrauchen kann. Aber niemand hat zu viel Kram. 😲

Was mich daran erinnert, dass ich eine mögliche Ursache unbedingt erwähnen wollte: Nämlich Armutserfahrung. Ich denke, wenn man mal längere Zeit nicht einfach hingehen konnte und sich kaufen, was mensch im Alltag grade braucht, dann lernt man allmählich, vorsorglich alles aufzubewahren, was man vielleicht mal gebrauchen könnte. Und man lernt, "zuzuschlagen", wenn man grade Geld hat und sich eine günstige Gelegenheit bietet. Beispiel Schuhe: Es wäre höchst unpraktisch, abzuwarten, bis das letzte Paar Schuhe durchgelatscht ist, wenn das Geld, was man zur Verfügung hat, auch ohne den Kauf neuer Schuhe immer nur bis 3 Tage vor dem Ersten reicht. Man muss in dieser Lebenslage eine Strategie entwickeln, um nicht barfuß laufen zu müssen usw. - und diese Strategie kann sich als fatal rausstellen, wenn sich die Lage ändert. Und ich behaupte, in gewisser Weise hat sich die Lage von uns allen geändert: In meiner Jugend waren die Mieten erheblich günstiger, dafür war Kleidung erheblich teurer. Ebenso alle möglichen Arten von Gebrauchsgegenständen. Daraus, und daraus, dass sehr viele Leute heutzutage ihren Jobs hinterher zu ziehen und es sogar normal wird, seine Partner_innen und Familien dafür zu verlassen, hat sich bei einem Großteil der Bevölkerung (insbesondere bei den Wohlhabenderen) die Mode entwickelt, ständig die alten Dinge rauszuschmeißen, um Platz für was neues zu haben, und insgesamt den kostbaren Platz nicht mit Vorratshaltung zu verschwenden. Das Ergebnis ist, dass der Markt nun nicht mehr nur mit billigen Waren aus sogenannten "Billiglohnländern" überschwemmt ist, sondern auch mit teils qualitativ hochwertiger Second-Hand-Ware. Ein Paradies für alle, die noch immer an der alten Gewohnheit kleben, sicherheitshalber genug Schuhe etc. für den Rest ihres Lebens anzusammeln, um der Altersarmut gelassen entgegensehen zu können , wo man dann den eingelagerten Nudelberg nur noch mit ein wenig Gemüse ergänzen muss!

Ich denke, rational haben wir schon alle kapiert, dass übermäßiges Hamstern die aktuellen Lensgrundlagen zerstört, aber wie viel ist "übermäßig"?

Dann kommen die neurologischen Beschaffenheiten. Das Gehirn ist ja nicht nur für die Leistungen zuständig, die wir als "IQ" zusammenfassen. Es steuert z.B. auch die Bewegungen. Jemand mit hohem IQ kann extrem unmusikalisch sein, und beides sind Leistungen des Gehirns. Es gibt also nicht einfach "gute" und "schlechte" Gehirne, sondern Menschen haben ein individuell unterschiedliches Leistungsprofil, wo bei einem Teil der Bevölkerung eben nicht nur der mittlere Bereich vorkommt, sondern auch die Extreme.

Für diese ganzen haushaltsrelevanten Fähigkeiten, z..B. das Treffen von Entscheidungen, die Fähigkeit, konzentriert eine eher langweilige Aufgabe zu Ende zu bringen, "Zeitmanagement" und den ganzen Kram braucht man vor allem die sogenannten Exekutiven Funktionen. Die werden vom Frontallappen gesteuert und sind erheblich wichtiger als höhere Mathematik, weil sie eben den ganzen Menschen durch den Tag navigieren und dabei steuern, ob seine sonstigen Fähigkeiten zum Einsatz kommen, bzw. welche davon.

Bei Autismus und ADHS (das nach meiner Auffassung und auch nach der vieler Spezialist_innen heutzutage auch zum in sich vielfältigen Autismusspektrum gehört) sind typischerweise diese Exekutiven Funktionen mehr oder weniger beeinträchtigt.

Eine witzige anschauliche Darstellung über ADHS (engl. ADHD): https://youtu.be/Zvqx9DfG9lU

Tatsächlich kann aber auch ein Trauma die Exekutiven Funktionen beeinträchtigen! Nur bedeutet das natürlich nicht, dass alle Menschen mit beeinträchtigten Exekutiven Funktionen ein Trauma erlitten hätten. Dieser Umkehrschluss ist ganz einfach falsch. Ich erwähne das deshalb, weil mir jedesmal ziemlich der Kamm schwillt, wenn Leute anderen, die sie gar nicht kennen, ein Trauma attestieren, nur weil sie ihre Bude nicht ordentlich haben! 🤬

Wobei ja auch der Messie-Zustand der Wohnung sich gar nicht definieren lässt, ohne Normalität zu definieren. Es wäre also durchaus jemand denkbar, der sich für einen Messie hält, weil er/sie einen besonders hohen Anspruch an Ordnung hat, wie auch jemand, der mit sich und seiner Wohnung voll zufrieden ist, obwohl andere es als Chaos empfinden. Woher nehmen wir also unsere Vorstellungen von Normalität? Und ist es realistisch, sich an Ordnungsmaßstäben zu messen, wenn die meisten Wohnungen anderer Leute, die wir im Leben gesehen haben, aus Hochglanzzeitschriften über Wohndesign stammen und nur für das Foto alles perfekt drapiert wurde?

Aber, ob man nun mit beeintächtigten Exekutiven Funktionen durch's Leben schusselt, oder früh und gründlich gelernt hat, bloß nichts wegzuschmeißen, was man nochmal gebrauchen könnte: Lernen / neu lernen können ja alle Leute! Das Gehirn ist in ständigem Wandel begriffen, und dabei können wir auch Bereiche nutzen, die gut funktionieren, um Tätigkeiten auszuüben, die man sonst macht mit Bereichen, die nicht so gut entwickelt sind. Das ist dann etwa so, als ob man die Hände beim Zählen benutzt oder sich statt der "intuitiven Empathie", die neurotypische Menschen angeblich haben (mir fällt auf: mit Prinzessinnen haben sie sie, mit Bettlerinnen nicht) aktiv fragt: Wie würde ich es finden, wenn man das mit mir machen würde?

Deshalb hier noch ein Link für alle, die grade "Decluttern" und vielleicht ein bisschen schnelle Anregung gebrauchen können über wie man über die Dinge üblicherweise denkt und wie man auch darüber denken könnte:
https://youtu.be/CoM0w0Cxebw

Dieser Beitrag hat jetzt schon Überlänge, deshalb hier noch zwei m.E. sehr wichtige Punkte nur als Stichworte:
- Selbstsabotage (besonders bei Trauma, aber auch um ein negatives Selbstbild zu erfüllen)
- Überforderung (z.B. weil die Menge an Kram nicht mehr überschaubar ist, weil man gesundheitlich oder zeitlich eingeschränkt ist etc.)


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08.08.2023 15:51 (zuletzt bearbeitet: 08.08.2023 15:52)
avatar  Robin
#2
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Die letzten Wörter nach der Klammer sind durch einen Kopierfehler dort gelandet und können einfach weg bzw. ignoriert werden. Sorry, ich hab's zu spät gesehen und kann jetzt nicht mehr editieren.


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08.08.2023 19:05
avatar  Gitta
#3
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Hallo Robin

das wird schon so stimmen. Wir haben eine Art Adipositas mit Sachen. In der Urzeit musste sich der Mensch möglichst viel Reserven anessen. Und vor nicht allzu langer Zeit gab es nur wenige Sachen, die aufwändig hergestellt werden mussten.

Die modernen Zeiten verlangen, dass wir unsere alten Gehirnteile ständig in Schach halten müssen. Und wenn wir mal eine schlechte Phase haben, gelingt uns das vielleicht nicht so gut. Aber dann sind die Pfunde und die Sachen schon da.


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12.08.2023 17:32
#4
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Moderator

Die Entscheidung der Mediziner, das Messie-Syndrom in die ICD-11 mit aufzunehmen, hat gewisse Gründe. Krankhaft ist das, was ich eigentlich ändern will, aber nicht ändern kann. Zum Beispiel, nicht mehr Radfahren zu können wegen der Knieschmerzen. Das ist dann auch eine Schwerbehinderung.

Ich sage immer: Verlasse deine Wohnung und betrete sie so, als wärst du ein Besucher. Wie nimmst du sie dann wahr? Und wenn du die Wohnungen/Häuser deiner Familien/Freunde kennst, schämst du dich dann für deine? Dann ist es nicht einfach nur Chaos, das du selbst als solches wahrnimmst. Dann ist es wohl schon Messiechaos.

Das ist ein Wohnungszustand, unter dem du leidest. Du versuchst, ihn zu ändern, schaffst es aber nicht alleine. Weil diese Krankheit gewissermaßen "neu" ist, haben wir es schwer, Therapeuten und praktische Helfer zu finden. Ein Therapeut ist keine praktische Hilfe, das ist eine theoretische. Theoretisch sind wir ja auch gar nicht chaotisch und haben das Sammeln entweder durch Armutserfahrung (ja ich war auch mal so arm, dass ich nicht verreisen konnte, nicht viele Klamotten kaufen konnte usw.) oder weil wir im Hochgeschoss ohne Fahrstuhl wohnen, oder durch andere Gründe.

Sind wir jetzt Messies, oder haben wir das Syndrom? Als psychisch krankhaft wird alles beschrieben, was aus der Norm fällt. Ich habe den Eindruck, dass die Normen immer enger gepresst werden. Die Wohnung ist sozusagen die Umgebung, die unser Inneres widerspiegelt.

Dann kann man aber auch gleich sagen, alle die Segelboote haben und die Löcher nicht stopfen, die sind versegelt oder so. Die sind dann segelkrank? Und alle, bei denen die LEDs ständig durchbrennen, die sind dann durchgeknallt? Und die, die in der Garage Gerümpel haben, sind dann Garagen-Messies?

Wer dann dem Hahn den Stall verdunkelt, damit er nicht morgens um 5 kräht, oder wer den Misthaufen bis zum Dachgiebel stapelt, damit der Hahn so lange zu tun hat, hinaufzuklettern, dass er naturgemäß 2 Stunden später kräht, ist der dann Hühnerkrank, oder hat er eine Krähheit?

Bald macht man aus allen Eigenheiten Krankheiten. Wer sammelt, ist Messie, wer viel Energie hat, ist ADHS, wer den ganzen Tag putzt, ist putzkrank, wer in der Badewanne singt, ist Badewannensänger... Es kann alles krankhaft sein, was nicht mindestens 40% der Bevölkerung tun. Dieser Versuch, alle in Schablonen zu pressen, wird seinen Ursprung im Mittelalter haben. Da wurden die Menschen mit seltenen Eigenschaften auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Tja das Schlimmste an dieser Krankheit ist, dass sie kostspielig ist. Helfer nehmen das Dreifache fürs Entrümpeln, dann sollte der Staat eben auch für Messies Gelder bereitstellen, weil das ja auch für die Krankenkassen zusätzlich Kosten verursacht usw. Und die Tatsache, dass es mit einer Entrümpelung nicht getan sein wird, dass man immer wieder diese Hilfen braucht. Heißt, ich persönlich glaube, das ist keine heilbare Krankheit.

Viele Grüsse
Draculara

http://www.draculara.de

http://messie.bplaced.net/messie

Eine Lösung setzt ein Problem voraus. Ich kenne meine Fehler, das hält mich aber nicht davon ab, sie zu machen

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13.08.2023 17:42
#5
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@Miranda

Hallo Robin, bei mir ist der Kaufzwang und das hörten auch aus einer Art Mangel entstanden.
Solange ich denke kann bin ich dick. Es gab nie schöne Klamotten für mich. Nichts hat richtig gepasst. Übergrößen ( ab 42 🙈🤣🤣🤣) waren unfassbar teuer. Es gab Ulla Popken,aber auch 60 km weit weg. Dann noch h und m. Auch 60 km.....irgendwann KiK. Die Sachen hatte dann aber jede an und sie waren meist weder schön noch lang genug.....
Als ich dann Händler fand die relativ günstig grosse Größen anbieten war ich total Happy. Und habe geshoppt was das Zeug hält.
Früher musste ich kaufen was da war und passte. Jetzt hab ich freie Auswahl. Und ich finde immerzu schöne Sachen. Ganz besonders Secondhand. Das ist zusätzlich noch günstig. Nur der Platz wird immer weniger. Da kann ich einfach nicht aus meiner Haut.
Immer der Gedanke " mit dem nächsten Kleid, da bist du endlich auch schon schön und was wert..." Passiert nur nicht. Aber mit dem nächsten dann ganz sicher. Oder dem danach.


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