Frustrationen in der Kindheit

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25.05.2017 13:23
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#16
Wo

danke Emin,

besonders auffällig ist es, wenn man in andere Kulturkreise fährt. Da ist alles ganz anders. Schon, wenn Deutsche nach Mallorca fliegen, wollen viele ihr gewohntes Leben weiter leben anstatt sich dem anderen Leben anzupassen. Also gibt es viele Lokale, wir kochen deutsch.
Bei uns wird mit dem Kopf genickt bei Zustimmung. in einem anderen Land wird bei Zustimmung der Kopf geschüttelt.
Wir wohnen in Wohnungen, andere in Wigwams.
Das ist alles von den Ahnen übernommen worden.
Wer einen festen Zustand seiner Wohnung erreichen will, lebt nach erreichen des Ziels im Stillstand. Das war auch der Gedanke meines Vaters. Aber wie ich erfahren mußte, ist die Welt nicht im Stillstand. Und darum kann es meine Wohnung auch nicht sein.

viele Grüße
Wolfram


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25.05.2017 15:49 (zuletzt bearbeitet: 25.05.2017 17:01)
#17
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Moderator

Die Wohnung ist nirgends im Stillstand. Überall wird renoviert, ein Schrank zum Sperrmüll gebracht, ein neuer Schrank gekauft, oder ein neues Bett, und wenn jemand Minimalist ist, ändert sich seine Wohnung trotzdem, und wenn es ein neuer Kühlschrank ist, ne neue Waschmaschine, oder Möbel umgerückt werden, darum gab es in meinem Elternhaus keine festen Wohnbereiche. Weil sie in meinem Zimmer ständig die Möbel umgerückt hat. Wenn sie wieder zu viel Energie hatte, ließ sie das nur an meinem Zimmer aus, weil die Möbel alle klein und leicht waren, im Nu ausgeräumt und umgerückt.

In keiner Wohnung sieht es nach z. B. 10 Jahren so aus wie beim Einzug. Irgend was ist dazu gekommen oder ist ausgetauscht worden wie z. B. Schränke oder auch Dekorationsartikel. An Advent sieht noch mal alles anders aus als sonst, mit Lichterketten, Weihnachtsbaum und so. An Ostern hängen manche Ostereier auf. Ich hab noch einen Karton mit Plastik-Ostereiern, wenn ich den finde, verschenke ich den, weil es sich nicht lohnt, irgendwelche Eier aufzuhängen für die paar Tage im Jahr.

Über meine Kindheit hat jemand was raus gefunden, der es gar nicht wissen konnte. So ein Onlineastrologe hat gesehen, dass ich in meiner Jugend oft ausgelacht wurde. Jetzt will er natürlich Geld für eine Vorhersage und wie er mir am besten helfen könnte. Ich werde nichts bezahlen, finde das aber schon gruselig, dass er Visionen hatte, die den Tatsachen entsprechen. Abzocken lasse ich mich deshalb aber noch lange nicht.

Viele Grüsse
Draculara

http://www.draculara.de

http://messie.bplaced.net/messie

Eine Lösung setzt ein Problem voraus. Ich kenne meine Fehler, das hält mich aber nicht davon ab, sie zu machen

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11.08.2017 01:37
#18
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Das ist ein sehr interessantes Thema und ein Ansatz, der mich zum Nachdenken bringt und einiges erklären würde.
Fehlende Liebe in der Kindheit. Meine Kindheit war nicht nur geprägt durch fehlende Liebe sondern ein einziges Drama bedingt durch die Insolvenz meiner Eltern als ich 5 Jahre alt war. Uns gings gut bis ich fast 6 Jahre alt war, dann rutschten meine Eltern tief in die Schulden und was folgte war Sozialhilfe. Bei meinen Großeltern mütterlicher seits und den Geschwistern meiner Mutter galten wir als asoziale. Und dieses Wort zog sich bis zu meiner Ausbildung hin. Man sah meinem Bruder und mir an das wir arm waren, denn wir trugen Kleidung aus der städtischen Altkleiderkammer. Ich lief immer umher wie ne Oma. Faltenrock bis auf die Wade, Rüschenblusen aber knallrote Turnschuhe. Das Hänseln nahm erst mit zunehmenden Alter ab.

Ich saß neulich mit meinen Kolleginnen zusammen und wir unterhielten uns über unsere Eltern. Sie erzählten Anekdoten aus ihrer Kindheit. Dann fragten sie mich. Ich konnte nichts zu erzählen. Die Konzentration meiner Mutter lag bei meinem Bruder. Der hat die Bluterkrankheit. Alles huschte um ihn herum. Alle 2 Wochen waren sie im Uni Klinikum, weil er Gerinnungsfaktoren gespritzt bekommen musste damit er nicht verblutete. Und weil er immer so tapfer war beim Spritzen bekam er auch immer Kleinigkeiten geschenkt. Nicht von meinen Eltern, die hatten nichts, aber von den Ärzten. Eine Zeit lang war mein Bruder in Fachkreisen auch sowas wie eine kleine Berühmtheit. Noch in den 70gern war es um Kinder mit der Bluterkrankheit nicht gut bestellt. Die landeten früh im Rollstuhl, weil durch die Gerinnungsfaktoren in den Gelenken Kalkablagerungen entstanden die nicht wegoperiert werden konnten wegen dem enorm hohem Blutverlust. Mein Onkel traf dieses Schicksal. Er saß mit 12 Jahren bereits im Rollstuhl. Das war ende der 50ger. Die Medizin verbesserte sich und auch OP Methoden. Mein Bruder war das erste Kind das seine Teenyzeit überstand ohne im Rollstuhl zu landen. Eine OP gegen die Kalkablagerung verlief sehr gut. Da war er 13. Auch heute sitzt er noch nicht im Rollstuhl und kann sein Leben und sein Arbeiten ohne weitere körperliche Einschränkungen genießen.

Aber als Kind stand er im Mittelpunkt. Der kleine Junge mit seinen vielen blauen Flecken. Ich war immer das gut erzogene Mädchen, still und freundlich, hilfsbereit. Bis ich in die Pubertät kam. Da hab ich meine Eltern zur Weißglut gebracht. Und heute bin ich eine Frau, die nicht eine Erinnerung daran hat das sie von ihrer Mutter je umarmt oder geknuddelt wurde. An die Schläge die ich hin und wieder bekam erinnere ich mich. Ich bekam meistens Klappse wenn ich meinen Bruder aus Eifersucht irgendwas an tat. Wenn die Diktate mit einer 5 nach Hause kamen, dann lag bei der Berichtigung immer ein Kochlöffel als Mahnung in der Nähe mit der Drohung das es was setzt wenn ich das nicht ordentlich mache. Mit dem Kochlöffel hat sie nie zugeschlagen. Der lag später auch bei meinem Bruder wenns darum ging Berichtigungen zu machen. Es war nur Drohmittel. Und wenn die Tränen flossen und im Heft Flecken machten, dann wurde die Seite raus gerissen. Dann durfte man neu beginnen. Ich weiß nicht wie viele Nachmittage mit Diktatberichtigung drauf gingen.

Später im Berufsleben sollte mir der Mangel an Emotionen noch zur Last fallen. Was macht eine Erzieherin wenn das Kind hinfällt und sich verletzt, auch wenn es nur die klitzekleinste Schramme ist? Was macht eine Erzieherin in der Eingewöhnungszeit eines Kindes, wenn die Mutter das erste mal das Kind für 10 Minuten verlässt? Sie tröstet das Kind durch Streicheleinheiten, Knuddeln, heile heile Segen und den ganzen Beruhigungszauber den man als Erzieherin so drauf haben sollte. Während meines ersten Praktikums in der Ausbildung stand so ein schreiendes Bündel vor mir. Und meine Anleiterin fragte dann, nachdem ich das Kind hilflos anstarrte, ob ich es nicht langsam mal hochnehmen und trösten will. Ja wollte ich, aber es war mir unangenehm. Ich musste das erst lernen, weil ich solche Dinge nie erfahren hab. Berührungsängste habe ich heute auch noch. Ich hab das zwar drauf mittlerweile so nach fast 15 Jahren, aber dieses beklemmende Gefühl ist immer noch da. Auch mag ich es nicht, wenn andere Leute mich berühren oder Umarmen. Das höchste der Gefühle ist der Handschlag. Ich hab Kolleginnen, die umarmen sich zur Begrüßung und zur Verabschiedung. Ich mag das nicht.

Aber es gibt auch Dinge da verstehe ich die Welt nicht mehr. Betreffend meines Vaters. Als ich 5 Jahre alt wurde feierten wir meinen Geburtstag. Das ist der erste Geburtstag, an den ich mich Bruchstückhaft erinnere. Mein Vater kam mit einem Kuchen an den Tisch. Das war ein Topfkuchen mit Schokoglasur und bunten Streuseln. Er sagte, den hab ich für dich gemacht. An dem Tag war er mein Held. In den Jahren danach war er der Mann an der Seite meiner Mutter. Mit mir hatte dieser Mann nichts zu tun. Er ging nicht mit mir weg, er spielte nicht mit mir. Naja er saß beim Essen am Tisch und wenn er wütend war flog auch mal die Türe. Bewegen konnte er sich kaum wegen einem Arbeitsunfall. Aber er war da. Als ich Teeny wurde hatten mein Vater und ich einen Kleinkrieg. Das gipfelte darin das er einmal richtig ausholte und ich rücklings auf dem Boden landete. Das hat er einmal gemacht, und nie wieder. Ich glaub er war genau so erschrocken wie ich. Als ich die Ausbildung beendet hatte zog ich ca 500 km weg Richtung Berlin. Wo ich noch heute wohne. Der Kleinkrieg endete am Tag meines Auszuges. Nach einem halben Jahr hatte ich das erste mal Urlaub. Ich hab in der ersten Zeit noch nichts verdient, also war Urlaub im Hotel Mama angesagt. Als ich am Bahnhof ankam stand meine Mutter am Auto und rauchte. Mein Vater kam auf mich zu, und meinte, mein Töchterchen ist wieder zuhause. Dann hat er mich umarmt. Das ist die einzige Umarmung eines Elternteils an die ich mich überhaupt erinnern kann. Ich war total perplex auf eine Art, hab mich aber auch gefreut.

Meine Mutter ist heute tot. Mein Vater und ich telefonieren jede Woche und auch heute mache ich noch mehrfach im Jahr bei ihm Urlaub. Es ist so, als wenn wir schon immer ein Vater-Tochter Gespann gewesen wären. Wenn ich den Mann heute mit dem Mann von damals vergleiche so frage ich mich, wo war diese Art Mensch in meiner Kindheit?
Gefühle habe ich nie richtig erfahren, bzw gelernt. Das zeigte sich beim Tod meiner Mutter. Sie starb vor 5 Jahren an Lungenkrebs. Am Sonntag Abend kam der Anruf das sie ins Krankenhaus kam. Ich hab an dem Tag TV geschaut, Computer gespielt, also eigentlich meine Alltagstrott weiter gemacht. Am Montag kam der Anruf das sie ins Koma fiel und mein Vater sagte, die Ärzte sagen, sie wacht nicht mehr auf. Ich hab an diesem Abend eine Radiosendung in meinem damaligen Hobbyradio moderiert. Ich hatte zwar eine innere Unruhe, aber verspürte weder Angst noch Trauer. Am Dienstag um 11 Uhr kam der Anruf das sie gestorben ist. Das war im Januar. Ich hatte noch anderthalb Wochen Urlaub. Ich hab mit meinem Vater am Telefon gesprochen und gefragt ob ich zu ihm kommen soll. Er verneinte und meinte es geht alles seinen geregelten Gang. Er war mehr mitgenommen als ich. Seine Stimme war zittrig, man hörte das Schniefen zwischendurch. Die erste Träne hab ich geweint, als die Urne abgesenkt wurde. Das war Ende Februar. Und danach auch nicht mehr. In all den Jahren danach hab ich mich manchmal versucht mich an die Stimme meiner Mutter zu erinnern. Aber selbst das gelingt mir nicht. Rein gefühlstechnisch ist sie eine Person die ich mal kannte. Und als dann im letzten Jahr mein Lieblingsschauspieler und einer meiner Lieblingssänger in einem Zeitraum von 4 Tagen gestorben sind, da brach eine Welt für mich zusammen. Eigentlich verrückt, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn der Tod zweier eigentlich wildfremden Menschen, die mich nicht mal kannten, mir näher gehen als der Tod der eigenen Mutter.

Wenn ich das alles so Revue passieren lasse frage ich mich manchmal, ob das was ich jetzt durchmache nicht einen tieferen Ursprung hat. Und wenn Frustration in der Kindheit ein Auslöser für das Messie Syndrom ist, dann mag das wohl auch in Teilen auf mich zutreffen.

~* Ich habe keine Macken, das sind Special Effects *~


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11.08.2017 03:31
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#19
Gast
( gelöscht )

@Belliwell

Liebe Belli,

was du beschreibst, da kann ich mich in vielen Teilen wiederfinden. Eine Kindheit ohne liebevolle Umarmungen, es erst lernen müssen, dass man einen anderen Menschen in den Arm nimmt. Beim Tod meiner Mutter konnte ich auch keine Trauer empfinden, weil sie mir immer fremd geblieben ist.

Spannend finde ich, dass du dann Erzieherin geworden bist, also ob du da einen Ausgleich schaffen wolltest oder so. Wie bist du zu diesem Beruf gekommen?


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11.08.2017 10:55
avatar  Wolfram
#20
Wo

danke Belliwell,

ich muß heulen, weil bei mir vieles ähnlich war. Heute darf ich heulen, damals sagte mein Vater: ein Junge heult nicht.

viele Grüße und nochmal danke für Deinen offenen Bericht.
Wolfram


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