Erfahrungsbericht: wie ich meiner Messie-Freundin beim Räumen helfe

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04.01.2023 18:38
avatar  cyrrox
#1
cy

Hallo zusammen!
Ich bin kürzlich aus offensichtlichen Gründen auf dieses Forum gestoßen und nutze mal die Möglichkeit, um hier einen Beitrag zu veröffentlichen.

# Was dieser Beitrag soll
Mit dem folgenden Text möchte ich einen Einblick geben, was ich erlebe im Umgang mit der Situation, die viele von euch kennen: man findet sich in einer Lage wieder, die im ersten Moment schockiert und überfordert. Diese Lage birgt auch die Gefahr, daß man nicht mehr weiter weiß und hinschmeißt - die Aufgabe, und viel schlimmer noch, das Vertrauen und den Glauben in die betroffene Person selbst.

Ich hoffe, daß die nachfolgende Schilderung auch Anderen einen Hinweis geben kann, wie man das Hinschmeißen vermeidet und hilfreich agieren kann.
Außerdem will ich versuchen darzustellen, worauf man sich als Freund und Helfer vorbereiten sollte, was man dabei erlebt - und welch gewaltige Herausforderung das für alle Beteiligten ist.

Und noch was Wichtiges vorab:
ich habe "Messie-Freundin" geschrieben, aber richtiger wäre eigentlich zu sagen "vom Messie-Syndrom betroffene Freundin". Das paßt aber nicht so gut in das Titel-Feld :D
Hoffentlich ist verständlich, daß die Unterscheidung wichtig ist: es geht ja nur um ein Symptom, nicht darum jemanden zu beurteilen oder irgendwie in eine Schublade zu stecken.

# Ausgangslage: wir als Paar
Wir sind jeweils Mitte 40 und ein festes Paar.
Beide stehen wir mitten im Leben, haben eigene Kinder aus vorigen Beziehungen, beziehen ein ganz normales Gehalt und sind gerne in Gesellschaft. Gelegentlich trinken wir ein oder zwei Glas Wein miteinander, wir können das schöne Leben genießen und reisen beide gerne.
Beruflich sind wir beide in Umfeldern, die viel Kommunikation und viel Einfühlungsvermögen erfordern. Ich selbst habe noch dazu im Beruf Team-Verantwortung.

Eine wichtige Besonderheit ist: wir sind zum zweiten Mal ein Paar. In jungen Jahren waren wir es schon einmal. Diese Info zum Hintergrund wird später nochmal wichtig sein.

# Die Wohnung und meine Messie-Freundin
Meine Freundin ist eine attraktive und schöne, aktive und lebendige Frau. Sie hat Witz und Charme, sie versteht sich auf viele Themen, kocht gerne und das zudem sehr gut. Sie ist begeistert von schönen Dingen, sie ist freundlich und engagiert. Es fällt ihr leicht, sich in Gesellschaft zu bewegen, anderen zu helfen und sich in die Gemeinschaft einzubringen.

An dieser Stelle möchte ich mich jetzt dann von dem Begriff "Messie-Freundin" auch verabschieden: es ist viel besser, hier von "vom Messie-Syndrom betroffen" zu sprechen. Das macht deutlicher und greifbarer, daß es um etwas geht an dem man was machen kann, man vermeidet so ein dummes und sogar wirklich schädliches Schubladendenken. Denn eine der Begleit-Aufgaben bei der ganzen Sache ist ja, ein "Stigma" zu vermeiden beziehungsweise auch loszuwerden.
In unserem Fall ist es etwas, das latent schon lange da war, sich dann ergeben und gesteigert hat. Viele die hier lesen werden bestimmt auch selbst erfahren haben, daß die Symptomatik in den Corona-Jahren ausgeprägter wurde, wie übrigens ja alle seelischen/psychischen Themen, wie ich meine.

Die Wohnung selbst ist schön geschnitten und geräumig. Es sind ca. 80qm die sich auf einen kleinen Flur, zwei Schlafzimmer, ein Durchgangszimmer zur Küche hin und ein großes, geräumiges Wohnzimmer verteilen, zuzüglich eines kleinen Bades und einer kleinen Küche. Es gibt außerdem eine Terrasse und einen großen Kellerraum, deren Flächen zu den 80qm noch dazu kommen.

Als ich die Wohnung erstmals betreten durfte (bis dahin waren wir bereits seit mehr als einem halben Jahr ein Paar) waren von der Gesamtfläche schätzungsweise noch 8 bis 10qm benutzbar. Ausgemessen habe ich es nicht, ich vermute das nur. Diese Fläche verteilte sich vor allem auf schmale Gänge, mit denen man von einem Raum zum anderen gelangen konnte, sowie auf wenige Stellen des Flur- und Küchenbodens. Ich zähle auch die Liegefläche auf der Couch da mit hinein, die als Schlafplatz genutzt wurde. Diese Fläche entsprach ungefähr der Kontur einer auf der Seite liegenden Person.
Die Luft roch ein wenig abgstanden, es gab keine verschimmelten Lebensmittel oder Ähnliches. Vor einiger Zeit waren die als Haustiere gehaltenen Nager mal ausgebüxt, deren Köttelchen fanden sich in einem Zimmer öfter. Ansonsten war die Wohnung staubig, darf aber als sauber gelten, auch unter und hinter den ganzen Taschen und Kisten. Nicht besenrein, aber sauber.

Ich hoffe, daß diese Schilderungen helfen, die vorgefundene Situation zu verstehen und die Unterschiede zu anderen Situationen zu verdeutlichen. Ihr als Leser werdet ja versuchen, Ähnlichkeiten zu euren Lagen zu finden :)

# Wie wir vorgehen
Irgendwann wurde meiner Freundin klar, daß sie genug Vertrauen zu mir haben kann, um mich in ihre Wohnung zu lassen.
Ich kam mit einem passenden Lattenrost an, der an ihrem Bett fehlte. Sie hatte mich mit leichten Hinweisen auf eine unordentliche Wohnung vorbereitet - diese Hinweise kann man aber nicht richtig verstehen, wenn man das nicht schon mal gesehen hat. Sie öffnete, ich hielt im Spaß noch meine Augen geschlossen und machte ein paar Scherze über die Situation. Wir haben viel gelacht, es war eine schöne Atmosphäre. Mit Blick auf die Zimmerdecke öffnete ich dann die Augen und sah mir danach den Flur an. Es gelang mir dabei, mich auf die reine logistische Aufgabe zu konzentrieren, wie wir den 2m-langen Lattenrost durch den Flur ins Schlafzimmer bringen könnten. Einige Kisten und Taschen mußten umgestapelt werden, mit langen Storchenschritten und ein paar Drehungen war der Lattenrost dann im Schlafzimmer.
Dort nahm ich eine kleine Pause, und bei einem ersten gemeinsamen Kaffee eröffnete ich ihr: das ist viel viel krasser, als ich es mir vorstellen konnte. (Ich kannte bereits zwei Leute die von dem Syndrom betroffen waren und hatte daher gedacht, ich wüßte was mich erwartet.) Wir fuhren an dem Abend noch in meine Wohnung, statt bei ihr zu übernachten wie geplant: der reine Anblick der ganzen Unordnung versetzte mich in eine solche Unruhe, daß ich Herzrasen bekam.
Bei ihr setzte in diesem Moment Scham und Angst ein. Scham wegen der Situation und vor mir, und dazu die Angst, daß ich auf dem Absatz kehrt mache und sie verlasse, angesichts des vorgefundenen Zustandes. Das steigerte sich praktisch sofort hin bis zu Magenkrämpfen und Übelkeit. Niemand von uns beiden zog die Reißleine. Ich erachte das als eine große Leistung von uns beiden.

In der Nacht arbeitete es in mir: wie können wir vorgehen? Ich schlief zwar, aber ich weiß noch gut, daß ich versuchte ein Vorgehen zu finden, das funktionieren könnte. Mein Vorteil ist, daß ich im Arbeitsalltag oft genau das mache, und ein zweiter Vorteil mag sein, daß ich das gerne tue, nämlich ordnen und Strukturen schaffen, die danach bestenfalls von selbst funktionieren sollen.
Wir haben nach dem Aufwachen bestimmt zwei oder drei Stunden mit Reden verbracht. Wir haben dabei sehr viel über Gefühle und Ängste und Empfindungen geredet. Es ist uns trotz aller Emotionen gelungen, die reine Sachebene zu betonen, nämlich was die nächsten Tätigkeiten angeht.

In den nächsten Schritten haben wir das Offensichtliche zuerst gemacht: in der Küche wurde abgewaschen. Alles was wir fanden wurde gespült, getrocknet und danach "irgendwie" verstaut. Ich erinnere mich an stundenlanges Spülen, bis hin zu rissigen Händen. Das Verstauen geschah teils in Schränke die ohnehin zu voll waren, teils in Taschen die dann zu anderen Taschen kamen - aber an definierte Stellen. Die kleine Küche wurde dadurch und durch "Umschichten" insgesamt freigeräumt, natürlich zu Lasten anderer Räume. Die Arbeitsflächen wurden geschrubbt. Ich konnte das als "meine Tätigkeit" sichern.

Meine Freundin fing an, die vielen Kisten, Tüten und Taschen im Schlafzimmer "sortenrein" zu packen, also Kleidung zu Kleidung zu stopfen bzw. Schuhe zu Schuhe oder Papier zu Papier usw.
(Übrigens kamen dabei 5 Säcke aussortierter Kleidung bei raus, die in die Kleiderspende gingen und die damit nicht mehr in ihrem Besitz sind. Das ist eine große Leistung! Im Ergebnis schätze ich, daß wir noch ungefähr die dreifache Menge an Kleidung haben als in die beiden Kleiderschränke passt.)
Das Prinzip "sortenrein sortieren" wurde wichtig für uns: das war ein Kriterium, mit dem eine für beide Personen erkennbare Arbeitsteilung möglich wurde. Für meine Freundin war die Angst oder sogar Panik, wenn ich ohne ihre Anwesenheit etwas machte, damit erträglich. Die Angst war nicht weg, aber meine Freundin konnte sich damit zumindest grob vorstellen, welcher Gegenstand wohin wanderte, als wir später weitere Arbeiten aufteilten. Daß der Sinnzusammenhang von unterschiedlichen Gegenständen in einer Tasche damit verloren ging wurde viel später mal angesprochen. Das ist bis heute allerdings (noch) kein entscheidendes Problem. Ich vermute, daß das noch kommen wird.

In den folgenden Tagen wiederholten wir das Vorgehen so: in ihrer Wohnung wird geräumt, in meiner Wohnung wird geschlafen. An jedem Tag haben wir sehr viel Zeit mit Reden verbracht: zum einen haben wir besprochen was der nächste Schritt ist, und wie genau dieser Schritt aussieht (ich gehe unten nochmal darauf ein). Zum anderen haben wir unsere Verhaltensweisen besprochen, und überwiegend ist es uns gelungen, dabei Ich-Botschaften zu senden statt dem Anderen Vorwürfe zu machen und Anklagen an den Kopf zu werfen.

Irgendwann war die Küche soweit, daß ich alleine nicht weiter machen konnte: jede weitere Tätigkeit hätte bedeutet, daß ich Entscheidungen getroffen hätte. Daß sowas für eine betroffene Person fast unerträglich ist, kann ich heute als Lehre ziehen. In der Situation selbst mußte ich mir das erst erarbeiten. Ich greife diesen Punkt weiter unten nochmal auf.
Jedenfalls mußte ich mir ein anderes Betätigungsfeld suchen. Das Verlassen der Küche konfrontierte mich sehr schnell wieder mit der Situation des überbordenden Chaos. Das war schon rein visuell sehr fordernd.
Mit dem Bad fand ich aber das nächste in sich abgeschlossene Betätigungsfeld, dem ich mich widmen konnte.

Damit eröffnete sich die nächste Notwendigkeit einer sehr klaren Absprache: woran erkenne ich, was Müll ist und weg kann und was nicht?
Wir legten das Vorgehen fest:
ich sammle getrennt nach Sorten, im Bad waren das Schmuck, Textil, Hygieneartikel, Schminkutensilien und Sonstiges.
Weiterin: ich lege meine Vorschläge für Müll getrennt nach Papier, Gelber Sack, Altglas und Restmüll auf einen Ort. Sobald genug zusammen gekommen ist, gebe ich den Müll zur Freigabe (was wir auch "Müllfreigabe" nannten), meine Freundin sah es durch und trennte nach wirklichem Müll und Gegenständen die wir in die anderen "sortenreinen" Kisten legten.

Danach zeigte sich allmählich freie Fläche: Küche, Flur und Bad waren in einem Zustand, wo man sich frei bewegen konnte statt wie auf einem Trampelpfad.
Wir konnten dann anfangen, Prio-Listen zu machen und das Vorgehen weiter zu strukturieren und für beide so klar zu formulieren, daß es für beide gleich zu verstehen war:
* welches qualitative Ziel wollen wir erreichen? Ein Beispiel für ein Ziel ist: der Flur muß als Durchgangsfläche immer erhalten bleiben.
* was müssen wir tun, um das Ziel zu erreichen? Am Flurbeispiel: (a) dort werden nur Sachen abgestellt, die am nächsten Werktag das Haus verlassen, beispielsweise weil sie auf der Arbeit gebraucht werden, (b) für andere Dinge müssen andere Orte gefunden werden.
* wer macht was? Wieder am Flurbeispiel: ich als Wohnungsfremder kann sortieren und schleppen, sie als Eigentümerin kann entscheiden, welcher Gegenstand in welche Kategorie aus (a) oder (b) fällt.

Nach drei Wochen Arbeit haben wir es geschafft, daß das Schlafzimmer, das Bad, die Küche, das Esszimmer und der Flur einen Stand haben, der einer unordentlichen Wohnung entspricht und keinen "Messie-Status" mehr haben.
Dasselbe gilt für ein Drittel des Wohnzimmers sowie für den halben Kellerraum.
Wir haben ca. 19 Kubikmeter Material aus der Wohnung entfernt.

Ich bin der Meinung, daß die wirklich fordernde Arbeit jetzt erst beginnt: denn an den übrig gebliebenen Stellen stehen jetzt höhere, besser gestapelte Umzugskartons, die auch in sich selbst dichter gepackt sind.
Jetzt wird sich auch meine Rolle ändern: bisher konnte ich mit Muskelkraft helfen, beispielsweise habe ich auch einen Schrank abgebaut, den Abfluß repariert, sperrige Dinge aus der Wohnung entfernt und Sachen zum Recyclinghof gebracht. Außerdem konnte ich das Vorgehen einbringen und damit eine grundsätzliche Ordnung ermöglichen. Das war sozusagen die "grobe" Arbeit.
Jetzt, wo es an die "feine" Arbeit geht, wird sich meine Mitwirkungsmöglichkeit ändern: denn ab jetzt ist jeder einzelne Gegenstand von meiner Freundin zu bewerten, was damit geschehen soll. Vermutlich werde ich jetzt eher als Gesprächspartner gebraucht werden. Wir werden sehen.

# Was ich dabei erlebe
Klar auf den Punkt gebracht: ich habe noch nie etwas gemacht, das mich mehr gefordert hat als das hier.
Jetzt muß ich etwas mehr ausholen, damit deutlich wird was ich damit meine: mein Leben ist alles andere als langweilig.
Ich habe mehrere Weltreisen gemacht, bin dabei illegal über Grenzen gereist, wurde beraubt und bestohlen, habe an finsteren Orten übernachtet und habe Wege eingeschlagen, die gar nicht erst für möglich gehalten wurden.
Meine Team-Verantwortung umfaßt viele Leute, die Projektarbeit leisten müssen, teilweise im Bankenumfeld. Das ist menschlich oft zäh und mit gemeinen Anschuldigungen und unfairen Methoden gespickt.
Dabei auch so gemeine Sachen wie Gaslighting und Framing.
Ich habe unter Streß gearbeitet und dabei Menschen sterben sehen.
Das einzige Erlebnis, das noch schlimmer war: als ich nicht wußte, ob mein Kind im Sterben liegt. Es lebt und erfreut sich bester Gesundheit, aber damals wußte ich erst nach vier Monaten, daß alles ok ist.

Ich will jetzt nicht erzielen, daß ich als etwas Besonderes gelte oder so. Für diejenigen unter euch, die sich für jemanden mit Messie-Syndrom einsetzen wollen, soll diese Aufzählung verdeutlichen, was euch erwartet. Vielleicht kann ich damit aufzeigen, daß "Räumen in einer Messie-Wohnung" nichts ist, das man einfach nur macht - jedenfalls nicht, wenn ihr zu der betroffenen Person eine menschliche Beziehung habt. Mein erster Rat wäre also entsprechend: richtet euch darauf ein, daß ihr auf dem Zahnfleisch gehen werdet, und daß es sowohl im ganzen Zeitverlauf als auch an jedem einzelnen Tag quälend kleinteilig und voller, auch unvorhersehbarer Streßmomente ablaufen wird.

Ich sehe mich fast durchgehend einer peniblen, sehr engmaschigen Kontrolle ausgesetzt. Es fällt mir nicht leicht, das auszuhalten, manchmal muß ich weggehen und was Anderes machen, beispielsweise wenn meine Freundin Müllfreigabe macht.
Meistens setze ich auch Kopfhörer auf, damit ich mich den Geräuschen meiner Freundin entziehen kann, wenn sie ihre Sachen untersucht: es kann dabei beispielsweise passieren, daß sie einen Plastikdeckel eines Gefäßes findet, mit dem sie vor vielen Jahren im Urlaub ein Essen transportiert hat, das sie an einem schönen Ort gegessen hat, der ihr etwas bedeutet und daraufhin kleinschrittig überlegt, wo denn nur dieses Gefäß sein kann, nachdem ich ja ihren bisherigen (geistigen) Lageplan der Gegenstände in der Wohnung verändert habe. Sie will mich damit im positiven Sinne mit einbeziehen: sie möchte mir vermitteln, daß das etwas Besonderes ist, daß ich es verstehe und sie nachvollziehen kann.

Was ich schon kurz angedeutet habe ist, daß ich mich zu Beginn ständig am Rande der Überlastung befand, gleich aus mehreren Gründen:
* das Chaos ist schon alleine visuell schwierig zu ertragen. Es gibt wenig sichtbare Struktur, man sieht tatsächlich überall angefangene und dann wieder abgebrochene oder umgeordnete Dinge
* logistisch ist dasselbe Chaos nur beherrschbar, indem man immer wieder innehält und sich versucht klar zu machen, wo man die nächste Tasche abstellen kann, ohne damit nur Masse zu bewegen statt echten Fortschritt zu erzielen
* meine Anwesenheit und Aktivität bedeutet für meine Freundin den puren Streß, und das bricht sich Bahn. Verbale oder stimmungsmäßige Äußerungen werden oft genug energisch und mit deutlichem Appell vorgetragen, es passiert auch oft genug, daß mir Dinge gesagt werden, die wie eine Anschuldigung klingen (beispielsweise wie es denn sein könne, daß ich entscheide, einen Pin eines von zwei Ohrringen zur Müllfreigabe zu geben, und daß wir jetzt Glück gehabt haben, daß sie das noch gesehen hat)
* die daraus resultierende engmaschige Kontrolle erwähnte ich ja schon. Dieses zwanghafte Kontrolletti ist schwer erträglich
* immer wieder mal, und meistens gegen Ende eines Tages, rutschte ich in Hoffnungslosigkeit ab: das wird hier nichts mehr. Glücklicherweise hielt dieser Zustand nicht lange an, ich machte mir meinem Unmut energisch Luft und meine Freundin hielt das aus, verwies auf den schon erreichten Fortschritt, und ich konnte doch weitermachen

Was ich als hilfreich erlebt habe ist aber, daß ich mich innerhalb der Arbeit abgrenzte und sie das auch zuließ: ich habe Bereiche als "das mache ich!" bezeichnet. Diese Grenzziehung half, mich aus dem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit zu befreien.

Ich mußte (und muß noch immer) damit umgehen, daß mein eigener Wille eine nur untergeordente Rolle in dem gesamten Vorgehen einnehmen kann. So wie es hier steht liest sich das recht harmlos, aber es ist eigentlich ein Kernpunkt des ganzen Erlebens: ich selbst habe in buchstäblich jedem Augenblick klar vor Augen, wie schnell wir vorankämen, wenn ich die Sachen die ich gerade in den Händen halte einfach wegwerfen würden (sagen wir mal eine kleine Blechdose mit alten Knöpfen, oder einen eingebeulten Schuhkarton mit verknickten Kontoauszügen von vor 2010).
Glücklicherweise haben wir im Groben etwas gefunden, wie ich mich einbringen kann (das beschrieb ich weiter oben, das sind die Vorgehensmodelle und die kleinteilige Müllfreigabe, beispielsweise). Auch das empfinde ich als große Errungenschaft und Leistung meiner Freundin.

Außerdem gibt es immer wieder mal Momente, die ich als wichtige Höhepunkte ansehe: meine Freundin schaffte es zum Beispiel, ihre unzähligen Kaffeetassen so in einzelne Kategorien zu sortieren, daß wir einige wenige wegwerfen und viele andere aus der Küche ausräumen und woanders wegsperren konnten. Es fiel ihr sehr schwer, sie hatte Schweiß auf der Oberlippe dabei und erlebte wiederum den reinen Streß.
Besonders schön war, als sie mich anwies morgen schon den Kleiderschrank abzuschlagen und wegzuräumen. Eine solch eindeutige Trennung von einem großen Gegenstand brachte ein sehr befreiendes Erfolgserlebnis mit sich.

Ich bin Zeuge, wieviele Tränen bei meiner Freundin bei dieser Arbeit fließen. Für sie ist es noch mehr Arbeit und Streß als für mich, sie durchlebt vielfältige Erinnerungen und Situationen noch einmal, im Guten wie im Schlechten. Manchmal werden ihr Zusammenhänge klar, oder sie erinnert sich an etwas oder jemanden und braucht dann eine kleine Zeit, um sich wieder zu fangen.

Wir schaffen es auch und vor allem, ständig miteinander zu reden. Auch wenn es immer wieder mal "krittelt" gelingt es uns, das nicht dauerhaft persönlich zu nehmen, selbst wenn es brodelt und das eine oder andere Mal auch explodiert ist zwischen uns.
Dieses "miteinander reden" ist aus unser beider Sicht entscheidend.

Ein letzter wichtiger Satz:
wir sind in der Zeit wo wir gemeinsam Räumen weniger ein Paar. Wir sind uns gut und wir sind stolz darauf, das gemeinsam zu machen, ohne Frage. Aber wir funktionieren eher als daß viel Raum für Romantik und Paar-Sein vorhanden ist.
Auch darauf muß man sich einstellen.

# Tipps und Tricks: was hat geholfen und was ist zu vermeiden
Vielleicht ist das hier der wichtigste Teil meines Beitrags: ich möchte versuchen zu schildern, was wir als gut erlebt haben, was uns geholfen hat.

Der Titel dieses Abschnittes ist nicht ganz richtig, denn der erste Tipp lautet: KEINE TRICKS! :D
Kommt bitte niemals auf die Idee, etwas doch wegzuwerfen ohne daß ihr das vorher besprochen habt, und wenn es noch so naheliegt: früher oder später werden kleine Gegenstände gesucht, und wenn es dann den Verdacht gibt, daß ihr diese entgegen der Absprache heimlich oder rücksichtslos entfernt habt, dann ist das ein Vertrauensbruch erster Güte.
Achtet auch darauf, daß ihr euch zwar einfach, aber auch genau und verbindlich ausdrückt: etwas wie "ich mach DAS HIER mal DA HIN" genügt nicht. Es muß so genau wie möglich ausgedrückt werden, also zum Beispiel "ich habe Kontoauszüge von der Sparkasse, ich weiß nicht aus welchen Jahren, ich würde die jetzt mal in den Papierkarton 2 legen, ist das in Ordnung oder hast Du einen anderen Ort dafür?"

Mit diesen Verhaltensweisen macht ihr euch erkennbar: was macht ihr gerade? Kann die betroffene Person sicher sein, daß ihr in ihrem Sinne handelt? Kann sie darauf vertrauen, ihre Sachen später wieder zu finden, selbst wenn sie es nicht selbst macht?
Das ist der Kernpunkt überhaupt: Vertrauen. Richtet all euer Verhalten darauf aus, Vertrauen zu fördern und seid ständig bereit, das Vertrauen erneut zu beweisen, auch wenn es euch überflüssig vorkommt und ihr es sogar lächerlich findet. Haltet es aus! Immerhin geht es nicht um euch, und es sind nicht eure Sachen.

(In unserem Fall war Vertrauen der Grund, warum ich am Anfang erwähnte, daß wir schon ein zweites Mal ein Paar sind: ich bin aufgrund unserer langen Geschichte mit soviel Wissen um meine Freundin ausgestattet und genieße ein solch riesiges Vertrauen, daß sie sich auf mich einlassen konnte.)

Jetzt aber zu meiner Liste der Sachen, die wir als hilfreich empfinden:
* klare, ganz genaue Vorbesprechung: macht euch genaue Listen und Vorgehensweisen, wer was und wie macht. Schreibt auch auf, welches genaue Ziel ihr heute erreichen wollt. Ein Beispiel das für uns funktioniert hat, hatte ich oben ja schon mal beschrieben (der Flur)
* für euch als Helfer: haltet euch genau daran, was besprochen wurde. Wenn sich dann herausstellt, daß ihr euren Plan ändern müßt: schildert das vorher, legt offen warum ihr das tut und wartet darauf, daß ihr gemeinsam das OK dafür gebt.
* die betroffene Person wird manchmal von den Verabredungen abweichen, in Details versinken und sich mit anderen Themen beschäftigen. Bereitet euch auch darauf gemeinsam vor. Trefft am Besten auch Verabredungen, wie ihr dann damit umgehen wollt, unter welchen Umständen Abweichungen ok sind, und unter welchen Umständen sie falsch sind. Ein Beispiel von uns: mitten in der Arbeit begann meine Freundin damit, ihre gesamte Bettwäsche zu waschen, zu bügeln und zu falten, obwohl eigentlich abgemacht war, daß sie den alten Schrank zum Abschlagen vorbereiten sollte. Sie erklärte, warum sie das machte, daß die Bettwäsche damit dann staubfrei und knitterfrei in Schutzhüllen geschoben und damit nachhaltig aus dem Weg sei. Ich sah das anders, aber der Gesamtfortschritt war damit nicht gefährdet und somit war das OK.
* Kümmert euch um eine Nachbereitung: stellt der betroffenen Person vor, was ihr erreicht habt, wo jetzt welche Sachen gelandet sind und warum.
* Macht auch danach eine Rederunde: was habt ihr jeweils erlebt? Was war gut, und was war nicht gut? Versucht eure nächsten Vorgehensweisen so zu verbessern, daß ihr konstant lernt, euch aneinander auszurichten
* Für uns erwies es sich als sehr sehr hilfreich, "eiserne Regeln" zu haben. Darunter zählen das "sortenreine Sortieren", einmal gewonnene Fläche nie wieder als Lagerfläche zu verwenden, nicht mal übergangsweise, und die (von mir sehr gehasste) Müllfreigabe (für meine Freundin war diese aber sehr wichtig, weil sie damit ein Gefühl dafür hatte, was ich als Helfer als Müll ansah)
* legt unbedingt Prioritäten fest: ihr werdet unweigerlich viele Ziele formulieren. Das birgt die Gefahr, daß ihr euch verzettelt, daher solltet ihr die Ziele in eine sinnvolle Reihenfolge bringen. Für uns war es richtig, erst die Küche, dann die Wege und dann das Bad frei zu bekommen. Die Prioritäten haben wir jeden Tag neu hinterfragt um zu sehen, ob das noch immer funktionieren kann
* Schaut am Besten, daß ihr eure Zeit gut einteilt. Wir hatten Tage, an denen wir unsere Pausenzeiten nicht eingehalten haben, das waren dann die Tage wo sich der Streß besonders deutlich im Schlechten auswirkte. Für uns galt, daß wir ungefähr so viel Zeit zum Reden wie zum Räumen brauchen. Wir haben definitiv den Fehler gemacht zu wenig Ruhezeit zu machen
* Bei aller Genauigkeit: achtet darauf, daß eure Listen und Verabredungen für alle Beteiligten handhabbar sind. Die Helfer werden die Tendenz haben, möglichst viel schaffen zu wollen, die Betroffenen werden es möglichst kleinteilig im Griff haben wollen. Das macht Konflikte. Räumt euch genügend Zeit ein, um euch darauf zu verständigen, ob ihr die Sachen gleich versteht. Und seid offen dafür, daß ihr das trotz aller Klärung unterschiedlich sehen werdet
* Nie, nie, nie anklagend oder persönlich werden! Und wenn es passiert: auch das besprechen und die Perspektive des Anderen gelten lassen.
* Für uns erwies es sich als hilfreich auf der Sachebene zu bleiben und immer nur über den reinen Gegenstand, oder über den nächsten Schritt oder die nächste Tätigkeit zu reden. Wir haben das nicht immer durchgehalten, es gab auch schlechte Momente. Aus diesen sind wir herausgekommen, indem wir uns nach der Klärung wieder zügig auf die reine Sache konzentriert haben. Das hat auch Tücken: einmal sollten zehn kleine (handgroße) Pylone weggeworfen werden, die meine Freundin aber unbedingt behalten wollte, damit sie bei Bauarbeiten auch korrekt absperren könne. Die Unterhaltung darüber, warum das keine sachliche Begründung ist, fand später statt. Aber immerhin fand sie statt :D
* Redet aber auch über die emotionale Bedeutung von Dingen: meiner Freundin half es, die Geschichte eines Gegenstandes mit mir zu teilen, und sie konnte sich erst danach von ihm trennen. Sie nutzt mich sozusagen als Erinnerungsreservoir und schafft damit zwei geistige Ablageorte für die Gefühle und Werte, die mit diesem Gegenstand verbunden sind.
* Als Helfer: achtet darauf, keine endgültigen, finalen Entscheidungen zu treffen, die nicht auch durch die betroffene Person geteilt werden. Siehe oben: es geht um Vertrauen.
* stapelbare Lagerungsmittel sind hilfreich und in großer Zahl notwendig. Aber auch hier Achtung: nur weil viele Sachen besser gestapelt sind, ist die Aufgabe nicht gelöst. Macht euch das immer wieder klar, daß "anders lagern" nur so aussieht als habe man aufgeräumt.

Meine Freundin betont, daß das Verlassen alter Gewohnheiten eine wichtige, sehr schwierige aber entscheidende Aufgabe in dem gesamten Prozeß ist. Es ist ihr sicher viel klarer als mir wie das zu verstehen ist, ich kann es hier am Beispiel darstellen: der alte Zustand gilt ihr in ihrem visuellen Gedächtnis als "normal", und sie hat eine unbewußte Tendenz, diesen alten Zustand immer wieder anzustreben. Das sorgt dann dafür, daß beispielsweise der Abwasch nicht sofort gemacht wird und stattdessen quasi "unsichtbar" wird (es hat da ja schon immer so ausgesehen, also ist das normal).
Sie empfindet meine konstanten Hinweise, daß da noch Abwasch steht, wie einen Rest-Knopf, mit dem das visuelle Gedächtnis darauf trainiert wird, sich etwas anderes zu merken.
Versucht am Besten, als Helfer und Betroffene, solche Mechanismen zu finden, zu benennen und bestenfalls zu ändern.

Das Wichtigste zuletzt:
* Geduld!
* Geduld!
* Geduld!

Ich kann das gar nicht oft genug schreiben, vielleicht auch weil ich von Natur aus ein eher ungeduldiger Typ bin. Geduld sollte allerdings auch nicht als Großmut oder Weichheit mißverstanden werden: die Konsequenz, das Verabredete auch einzuhalten und durchzustehen ist ebenso notwendig. Daß sich daran gehalten wird, das wird man immer wieder erinnern und einfordern müssen.
Dennoch, es werden viele Momente auftreten, wo unerwartete Dinge auftreten, Konflikte aufbrechen oder anderweitig Sachen passieren, die einen an den Rand eines Wutausbruches bringen.
Egal was passiert: seid euch klar darüber, daß ihr sehr sehr viel Geduld braucht.
Findet eine Möglichkeit, wie ihr euren Geduldsvorrat wieder auffüllen könnt, wenn er mal zur Neige geht.

# Wie geht es weiter
Ich bin noch nicht sicher, ob ich euch hier weiter mit Berichten versorge. Wahrscheinlich entscheide ich das einfach je nachdem wie es mit dem Räumen weitergeht.

Die nächste Phase ist schon begonnen: wir haben jetzt einige Umzugskartons mit Papier mit in meine Wohnung genommen, und meine Freundin sortiert diese hier, in einer ruhigeren, wenig Ablenkung bietenden Umgebung.
(Die Schilderung "wenig Ablenkung bietend" stammt von meiner Freundin, sie empfindet diese Formulierung als entscheidend.)

Meine Rolle werde ich hier wohl eher nicht finden, aber das wird sich bestimmt entwickeln.

Ich bin außerdem gespannt, ob sich diese Schilderung für euch als nützlich erweisen könnte. Es würde mich auf jeden Fall freuen, wenn unsere Erfahrungen jemand anderem nützlich sind. Wenn ihr wollt kommentiert gerne, ich denke schon daß ich die Zeit finden werde auch zu antworten.

Ach ja:
der gesamte Text wurde von mir verfaßt und von meiner Freundin auch gelesen und akzeptiert, bevor ich ihn hier gepostet habe. Es geschieht also auch hier nichts, was nicht abgestimmt ist.

Und derzeit ist mein Streßpegel ziemlich ruhig :D

Viele Grüße an alle,
Cyrrox


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04.01.2023 23:33
avatar  Scherbe
#2
Sc

Hallo cyrrox,

wow - ich bin total beeindruckt von deinem Beitrag!!!

Einiges dazu werde ich noch schreiben - für den Moment sage ich erstmal nur DANKE! Danke, dass du das mit uns hier teilst und danke, dass du so für deine Freundin da bist, ihr so zur Seite stehst! Meine Hochachtung!

Liebe Grüße,
Scherbe


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05.01.2023 04:07 (zuletzt bearbeitet: 05.01.2023 04:08)
avatar  Fundus
#3
Fu

Zitat von cyrrox im Beitrag #1
# Was ich dabei erlebe
(...)Ich habe mehrere Weltreisen gemacht, bin dabei illegal über Grenzen gereist, wurde beraubt und bestohlen, habe an finsteren Orten übernachtet und habe Wege eingeschlagen, die gar nicht erst für möglich gehalten wurden.


Ich habe da etwas unaufmerksam gelesen und dachte die Weltreisen und illegalen Grenzübertritte sind beim Aufräumen nötig geworden. :)

Ich picke mir mal nur einen technischen Aspekt raus, der mir in Deiner Schilderung aufgefallen ist: Daß es selbst für einen Unbetroffenen teils nicht möglich ist, wegzuräumen (Küchenutensilien) oder zu sortieren (Stecker zu Ohrring, Deckel zu Schale.) Was deutlich macht, daß zumindest dieses Detail immer/oft/manchmal kein seelisches Problem ist, sondern schlicht ein aufgezwungenes physikalisches Gesetz.

Genauso der fehlende Überblick. In einer Hoarder-Folge haben sie mal den gesamten Hausinhalt eines Technik-Messies in einer Lagerhalle ausgebreitet und dann sortiert. Wodurch man in Augenblicken eine Übersicht hatte, was alles vorhanden ist. Ich fand das faszinierend und hätte auch gerne einen Hobbyraum mit angeschlossener Lagerhalle. :)

Bei dem Punkt mit der zweimaligen Beziehung fiel mir eine (Nicht-Messie-) Freundin ein, die zuletzt vor vielleicht 15 Jahren bei mir war. Da war es nur leicht vollgestapelt und kein Vergleich zu heute. Sie meinte damals, es ist halt nicht gemütlich. Das habe ich mir gemerkt, weil irgendwie klingt das wie der Fußballerspruch mit dem kein Glück und dann noch Pech dazu: Irgendwann ist es nicht nur nicht mehr gemütlich, sondern noch schlimmer wie das Gegenteil davon.

Einerseits lähmen die vielen Gegenstände eines Messies die Entwicklung. Andererseits bauen Nichtmessies auch ein Haus, richten sich ein und ändern dann 50 Jahre lang ebenso nichts mehr, bis sie mit den Füßen voran rausgetragen werden. Ich schaue mir gerne "Lost Places"-Filme an, und da gibt es soviele perfekt aufgeräumte Wohnungen und Häuser, wo genau das passiert ist. Da steht dann der Rollator und die Medikamente des Verstorbenen, aber das Sofa und Bett und der Rest der Wohnung sind von unmittelbar nach der Hochzeit, die schon 50 Jahre her ist. Kleine Änderungen wie eine neue Küche oder ein renoviertes Bad ändern da nicht viel. Bei den Messies ist es auch nicht anders, nur viel vollgestopfter und es ist irgendwie jeder Zwischenschritt nachvollziehbar.

Also irgendwie scheint der Mensch ankommen zu wollen. Bei den einen ist das dann ein statisches Gerippe, bei den anderen mehr so Sedimentablagerungen. Aber öfters komplett neu anzufangen macht kaum jemand. Ein Verwandter hat das mal gemacht, ein Jahr Weltreise, und davor alles weggeworfen was er besessen hat, bis auf ein paar Umzugskartons. Ich kann aber sagen, daß das auch nur eine Flucht und nicht unbedingt eine gesunde Weiterentwicklung war.

19 Kubikmeter klingt, öhm, viel. Und in der heutigen Zeit auch teuer. Ich mußte gerade zwei von drei Kellern leerräumen, schwer zu schätzen was ich wirklich bewegt habe, aber beim "luftigen" Volumen nach Kellerfläche und Stapelhöhe war ich auch bei 13 Kubik, die ich im Wesentlichen entsorgt und nur einen kleinen Teil davon in den ersten Keller eingelagert habe (der dafür zuvor genauso einige Kubikmeter Federn lassen mußte.)

Was ich gemerkt habe: Je mehr ich Sozialkontakte habe, desto leichter fällt es mir, auch mal was wegzuwerfen. Was im Umkehrschluß bedeutet hat, während Corona habe ich gesammelt wie ein Feldhamster im Herbst. :)

Daher kann ich mir vorstellen, daß das in eurem Fall auch eine verstärkende Wirkung haben kann. Also wenn ihr den Wein zusammen auf einem neuen Eck des Sofas oder an einem Tisch trinken könnt, wird das vielleicht melancholische Gefühle Deiner Freundin für Weggeworfenes verdrängen und die nächste Aufräumrunde leichter machen.

Was ich bei mir gemerkt hatte: 10 Klappkisten im Kellervorraum nebeneinander und nochmal 10 gelbe Postkisten ebenso ausgebreitet und ich konnte im Direktzugriff sagen: das Müll, das bleibt, auch mal die ganze Kiste ist gut und jene kann komplett weg. Aber es ging superschell verglichen damit, wenn ich eine einzelne Kiste auf dem Bett ausschütte und dann überlege, das Kabel, die Schrauben, der Dübel....
Wenn ich mit einem Blick sehe, ich habe da 50 Dübel, und in jeder Kiste sind nochmal 5 oder 10 verstreut, dann kann ich die verstreuten sofort entsorgen, weil ich die 50 schon nicht verbrauchen werde. Sehe ich nur 5 auf einmal, dann weiß ich nicht, wieviele ich habe und behalte sie dann sicherheitshalber alle.


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05.01.2023 15:24
avatar  Wolfram
#4
Wo

@Cyrrox

danke, das war der beste Erfahrungsbericht, den ich bisher gelesen habe.
Ziele setzen hatte ich zuerst falsch verstanden. Ich dachte, das Ziel muß erreicht werden und das verführt zum Stress. Aber wenn nur die nächste Richtung vorgegeben werden soll, ist das OK.
Ein weiterer Unterschied, warum das bei vielen nicht funktioniert, weil sie zuhause alleine rumsitzen. Eine Freundin zu haben bzw. einen Freund, das ist bei den wenigsten der Fall. Und dann müssen die auch noch so gut wie Du zusammenarbeiten, das ist auch selten der Fall, weil jeder Mensch verschieden ist.
@Draculara
das zeigt Dir hier, warum es bei V.S. nicht gutgehen kann. Da steckt Zeit dahinter, weshalb alles schneller gehen muß als man sehen kann.

viele Grüße
Wolfram


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05.01.2023 17:49
avatar  cyrrox
#5
cy

Hallo zusammen,

Danke für eure Antworten und euren Zuspruch!
Ich habe überlegt, worauf ich antworten möchte und würde mich jetzt auf die Sachen konzentrieren, die auf anwendbare Hilfe hinauslaufen, beziehungsweise solche Dinge, die anwendbare Hilfe ermöglichen. (Wenn ich auf alles eingehe was interessant oder relevant ist, dann verbringe ich sehr viel Zeit mit Tippen, kann aber dafür im echten Leben weniger, buchstäblich, bewegen ;) .)

Stichwort "teuer" von Fundus:
das hat mir einen wichtigen Impuls gegeben: woran wird eigentlich festgemacht, daß das Wegwerfen "teuer" ist im Gegensatz zum Behalten? Das Behalten kostet Raum (offensichtlich), Zeit (weil man es willens oder unwillentlich verwalten muß), Nerven (weil man sich damit geistig beschäftigt) sowie Beweglichkeit (es verhindert, daß etwas Anderes nachrücken kann). Behalten ist auch teuer.
Diese Formel ist mir noch zu sperrig, man kann damit noch nichts in der Praxis anfangen. Ich bleibe dran.

Stichwort "Ziele" von Wolfram:
ja, so ungefähr: das Ziel wurde gesteckt, und es wurde auch festgehalten, daß wir damit rechnen das Ziel vielleicht doch nicht zu erreichen. Aber das Nichterreichen war kein "Scheitern", sondern wurde als etwas festgehalten, an dem wir lernen wollen: warum ist das Ziel noch nicht erreicht? Was genau hat nicht geklappt? Am Beispiel des alten Schrankes: ich hatte zu Beginn vollkommen unterschätzt, wieviel Material darin war. Unser Lerneffekt war, daß wir (a) unser eigenes Vorgehen jeweils zunächst testen müssen, ob wir wirklich so vorankommen wie wir das am Reißbrett gedacht haben, als eine Art Probefahrt und (b) sehr viel detaillierter planen und beschreiben müssen, damit wir uns selbst im Tun viel besser selbst lenken können wenn wir die Orientierung verlieren - und das passiert angesichts der Massen an Material und des geringen verfügbaren Platzes ständig. So haben wir, ich vergaß das zu erwähnen, mit sehr kleinteiligen Tätigkeitslisten gearbeitet, die wir abhaken und zur Not anders sortieren konnten.
Nur wenn wir aus dem Nichterreichen nichts lernen konnten wurde das als "Fehler" bezeichnet - und diese Momente waren sehr rar. Genau einer: den Schrank wollte ich dreimal zerlegen, und erst beim vierten Anlauf gelang das. Und diesen vierten Anlauf bestimmte meine Freundin <3


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