messie-leben / was damit anfangen?

  • Seite 1 von 2
14.10.2014 15:34
#1
oh

Hallo!

das hier ist mein erster beitrag in einem forum überhaupt...nachdem ich mir den einen und andren von euch durchgelesen habe, möchte ich mich nun auch drüber trauen.
...zum einen, um mir etwas von der seele zu schreiben, worüber ich mit keinem in meinem umfeld sprechen kann.
zum andren, um vielleicht erfahrungen mit euch zu teilen die ev. ähnlich sind...
bitte entschuldigt, dass der text vermutlich etwas länger wird (ich erwarte von niemandem, sich das anzutun)...aber wie grade erwähnt muss ich das einfach loswerden...und weis grade gar nicht wie ich anfangen soll...

ich bin mit meinen zwei (halb)brüdern, die sechs und acht jahre älter, als ich sind in einem messie-haushalt groß geworden. dieser haushalt war ein abbild von vielem, von allem was meiner mama jemals passiert ist, das war mir schon immer klar. schon als kleines kind wusste ich von den meisten ihrer schicksalschläge und der art wie sie selbst großgezogen wurde, wie sehr sie damit kämpfte... sich immer wieder- nur für uns, aufrappelte. ich meine, dass ich schon als kleines kind ihre trauer, angst und verzweiflung mit ihr geteilt hatte, weil sie sonst einfach niemanden an ihrer seite hatte. niemanden. diese frau hat täglich bloß darum gekämpft, ihre kinder nicht zu verlieren und dabei nicht verrückt zu werden. ich kann mich an keine zeit erinnern in der es nicht dazugehörte darum zu bangen sie zu verlieren...damit meine ich nicht nur das jugendamt. ich meine damit vor allem die stunden in denen wir als kinder an ihrem bett gesessen haben und um ihr leben gebangt haben (ohne die möglichkeit einen erwachsenen hinzuzuziehen, da unsere wohnung nicht betretbar war). meine mama, weis ich heute, hatte schwere posttraumatische störungen. und ihr herz war schon recht schwach.

bei uns gings immer drunter und drüber, aber meistens in der hoffnung, dass alles mal besser würde. in meinen ersten acht lebensjahren ging es besonders chaotisch her, da die herrausforderung an meine mutter ihre familie zu erhalten sehr groß war und oft eben schlichtweg überfordernd. dabei hat irgendwie jeder von uns vieren sein fett abgekriegt. durch die umstände in der sich eine vernachlässigung nicht vermeiden ließ (wir hatten kaum finanzielle mittel, deshalb hatte meine mutter oft tag- und nachtjobs gleichzeitig, deswegen waren wir oft alleine eingesperrt). meine mutter war besonders meinem ältesten bruder gegenüber gewalttätig, was ihr selbst wehtat. ihre ansprüche an ihn waren meist zu gross. keiner konnte sich da so recht helfen. in dieser zeit wurde ich von ihm sexuell immer wieder missbraucht (später wurde mir klar, dass auch er sexuell missbraucht wurde. genauso wie mein anderer bruder der von zehn bis zwölf jahren in einem internat war). ich kann mich noch gut an seine drohungen erinnern:" wenn du was sagst, muss ich ins heim. alles fliegt auf." "alles fliegt auf" hat mir impliziert: dann bringt sich mama um.

"alles fliegt auf"
das ist ein satz der uns immer begleitet hat um den sich vieles gekreist hat. niemand von uns hat gewusst, dass es noch andere messies gibt. die scham war so gross. genauso die ohnmacht dagegen anzukämpfen. wir haben immer wieder versucht aufzuraümen, am ball zu bleiben, doch das konfliktpotenzial dabei war riesig. meine, mutter hat immer gemeint, wenn das auffliegt stehen wir in allen zeitungen, würden von der polizei abgeführt, sie müsste wahnsinnig werden und umbringen. seuchengefahr. ein einmaliger fall dachte sie und wir auch. sie wünschte sich von uns das alles gemeinsam zu bewältigen, aber es war einfach alles zu viel. und kein ansatz war der richtige. beziehungsweise konnten wir es in diesem fall nie richtig machen. schon gar nicht auf dauer. ich muss zugeben ich habe aufgehört es zu richtig versuchen, als ich mit 14 zum erstenmal meinen ersten eigenen schlafplatz, auf den ich achtete hatte, der in einem streit auf einen schlag kaputt gemacht wurde. da fühlte ich mich selbst auch nur noch wie dreck.

obwohl ich mich noch immer dafür schäme (ich schäme mich deswegen, weil ich es nicht fertigbrachte es gut zu machen), dass es bei uns so ausgesehen hat wie es eben ausgesehen hat, möchte ich es dennoch beschreiben. das ist mir irgendwie wichtig. ich wurde während meiner schulzeit nämlich oft danach gefragt. von freundinnen, die man nie lange hatte. dann hatte man was erfunden, genauso wie man das auch bei vielen anderen gelegenheiten tat. eigentlich hat man ausserhalb dieser wohnung immer über alles gelogen um normal zu sein. obwohl ich ein soziales umfeld habe kennt mich deswegen keiner so ganz. in unserer wohnung war zu hochzeiten kein zentimeter boden sichtbar. es gab schlurfe durch die man sich bewegte. fäule. maden. fliegen. kein warmwasser. immer geschlossene fenster. keine funktionierende toilette. wieso hatte ich die geduld und disziplin nicht, mich dagegen durchzusetzen.
ich hab so oft aufgegeben, hab mir gar keine zukunft nach dieser wohnung vorstellen können.

irgendwann ist meine mum an krebs erkrankt, da war ich noch in der schule. die habe ich abgebrochen, einfach weil ich nicht mehr wollte. ich war trauig, wollte das mit meiner mama gemeinsam durchstehen. eigentlich hatten wir da auch keine andere wahl. eine zeit lang hat meine mutter unglaubliches vollbracht, große verbesserungen angestellt. hat sich getraut ihr leben wieder in die hand zu nehmen, positives zu sehen. sie wollte nicht in diesem dreck sterben wie ein hund (ihre worte). aber wir habens incht ganz geschafft. zum schluss war es schon sehr viel besser kein vergleich zu früher, doch irgendwie hat das auch nichts gutgemacht. meine mama war ein paar jahre krank, die pflege übernahm ich, weil es mit keinem anderen möglich gewesen wäre.

das ist jetzt vier jahre her. in meiner wohnung gibt es ein zimmer, das voll gestellt ist mit schachteln ihres "hausrats". am dachboden ist noch mehr. ich kann damit einfach nicht umgehen, es hängt so viel dran. ich selbst tu mir auch schwer ordnung zu halten, aber es geht soweit noch. manchmal merke ich, dass ich mich noch einem geheimen wohnort sehne, ich mich vor allem verstecken möchte und mich nicht als dazupassend emfpinde. vor einem jahr bin ich auf einer kunstuni aufgenommen worden, das hätte ich früher nie machen können, weil ich keine zeit und keine möglichkeit dazu gehabt hätte, meinen alltag frei zu gestalten. jetzt ist es soweit und ich bin drauf und dran alles kaputt zu machen. ich hab das gefühl für ganz normale dinge die man zum leben braucht fehlen mir die fähigkeiten. irgendwie ist da nichts. ich versteh mich selbst einfach nicht. es ist anstrengend sich jeden tag verstellen zu müssen, damit ja keiner sieht wer du bist. dabei fühl ich mich verlogen und unauthentisch.


na gut ich lass jetzt mal bleiben. tut mir leid, dass ich hier so wirres zeug geschrieben habe. aber hey, wir sind ja alle anonym hier.... :)

danke!







meine mutter war eine über alle maßen starke frau, die ich nur selten als sie selbst erleben konnte.


 Antworten

 Beitrag melden
14.10.2014 16:22
avatar  ( gelöscht )
#2
Gast
( gelöscht )

Hallo ohngesicht,

herzlich willkommen hier im Forum. Ich muss gestehen - und es kommt gewiss selten genug vor - dein Beitrag macht mich fürs erste sprachlos. Das ist überhaupt kein "wirres Zeug", sondern geradezu bestechend analytisch. Du bist in einer Phase des Erklärens, vor dir selbst, und jetzt mit diesem Schritt auch vor anderen. Die nächste Phase wird wahrscheinlich die sein, Lösungen zu finden. Vielleicht können wir das gemeinsam angehen. Aber ich muss mich gerade wirklich erst mal sammeln, das auch ein wenig verdauen, und darüber nachdenken, was ich dir raten könnte.


 Antworten

 Beitrag melden
14.10.2014 20:16
avatar  ( gelöscht )
#3
Gast
( gelöscht )

Ich hab heute Nachmittag viel über Stärke nachgedacht. Dieser letzte Satz ist mir nachgehangen. Im ersten Moment wollte ich dich bemitleiden, aber je mehr Abstand ich zu deiner Geschichte hatte, desto klarer wurde mir, dass ich dich bewundere.
Ich finde, du hast jedes Recht, den Satz so auch auf dich selbst anzuwenden. Wie stark du sein musstest! Und wie wenig du du selbst sein durftest!


Wenn man das überhaupt wagen darf zu sagen, so als Außenstehender, was wohl "euer größtes Problem" gewesen ist, dann würde ich meinen: Die Isolation. Klar, völlig logisch, aus Angst, dass euer Leben durch die Entdeckung, wie es wirklich ist, völlig in den Arsch geht.
Wer so über seine Mitmenschen denkt, der hat ganz sicher tief sitzendes Misstrauen gegen andere Menschen, der nimmt immer an, dass sich alles für ihn zum Schlechteren wenden wird, wenn jemand "von Außen" Einblick erhält. Ich frage: Wo ist da die Hoffnung, wo ist der Glaube, dass es auch Menschen gibt, die es gut mit anderen meinen? Die nicht verurteilen, sondern helfen wollen?


Bei uns hier im Forum geht es ganz oft um das empfindliche Thema "Müssen". Dinge zu müssen, das mag keiner. Sich Hilfe suchen müssen - furchtbare Vorstellung. Aber was, wenn ich dir sage, dass ich finde, dass du lang genug GEMUSST hast? Du musstest stark sein. Du musstest so vieles verkraften, du musstest funktionieren. Du musstest verbergen, dich verstecken, du musstest dich schämen, du musstest deine ganze Persönlichkeit dein ganzes Leben lang hinter einer Wand vermauern, damit nur um Himmels Willen keiner merkt, was wirklich mit dir los ist. Innendrin, in dir, und innendrin, in deinem Haus.
Ich wünsche mir für dich, dass nun eine Zeit des Dürfens beginnt. Ich finde, du darfst jetzt auch mal schwach sein. Du darfst dir von anderen Menschen helfen lassen. Du darfst, herrje, du hast ein verdammtes RECHT darauf, einfach nur du zu sein, und dein Leben so gestalten, dass du dich darin wohlfühlst.


 Antworten

 Beitrag melden
14.10.2014 21:27 (zuletzt bearbeitet: 14.10.2014 21:30)
avatar  ( gelöscht )
#4
Gast
( gelöscht )

Hallo ohngesicht,

danke für Deinen Beitrag hier und Deine offene Analyse der Situation, in der Du Dich befandest.

Drei Worte haben mich bewegt: "alles fliegt auf.". Das ist wohl das, was allen Betroffenen hier im Forum die größte Angst macht.

Wenn ich Dich und Deinen Beitrag richtig verstehe bist Du über diese Angst hinweg, und das ist gut so.

Für Dich ist nun Zeit, in Würde und Dankbarkeit von den Dingen Abschied zu nehmen, die Deine Mutter Dir hinterlassen hat. Bedanke Dich, innerlich wie äußerlich, von den Dingen, die Deiner Mutter wertvoll waren - sie haben ihren Zweck erfüllt. Also wirf sie weg. Behalte nur, woran auch Dein Herz hängt.

Wie Du Dich von ihnen trennst ist Deine Sache ... ich habe zum Beispiel im Nachlass meiner Mutter die Konversation in Sachen "Arier-Nachweis" gefunden. Dies kann man aufheben oder wegwerfen, es ist eine rein persönliche und intime Angelegenheit. Jedoch der "Sand vom schönen Urlaub in Neuharlingersiel", wo ich fünf Jahre alt war - das Glas darf den Weg allen Fleisches gehen, oder?

Ich wünsche Dir alles Gute


Funzo


 Antworten

 Beitrag melden
22.11.2014 12:10
avatar  Kayla
#5
Ka

Hallo Ohngesicht!
Du bist auch eine starke Frau. Und das macht Dich verletztlich. Wer so wie so keine tiefergehende Bindung zu irgendwas eingehen kann, dem fällt es auch nicht schwer, sich davon zu trennen. Das ist das Problem.
Aber es ist nun an der Zeit, los zu lassen. Denk nicht darüber nach, dass Dinge Deiner Mutter wichtig gewesen wären, sondern darüber, dass sie vermutlich bei vielen froh gewesen wäre, sie loslassen zu können. So sehr man zeitlebens an Dingen hängt, weiß man doch im Hinterstübchen, dass es ein ungesunder Zustand ist, einer, der innere Löcher stopfen soll, es aber niemals schafft. Und da rede ich nicht von Müll. z.B. meine Alben sind das beste Beispiel dafür. Die sind kein Müll, die sind inzwischen sogar recht wertvoll. Aber sie sind Ausdruck meiner Unfähigkeit, Dinge los zu lassen. Ich hoffe, meine Kinder entsorgen die Dinger nach meinem Tod mal einfach oder finden jemanden, der eine gesunde Beziehung zu dieser Art Sucht hat.

Viel Kraft
Kay

Ordnung ist etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos. (Arthur Schnitzler)


 Antworten

 Beitrag melden
Bereits Mitglied?
Jetzt anmelden!
Mitglied werden?
Jetzt registrieren!